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Donnerstag, 22. September 2022

Zeitenwende: Eine Zukunft ohne Fortschritt?

Andreas Reckwitz ist einer der angesehensten Soziologen Deutschlands. Im SPIEGEL schreibt er über die Zeitenwende. Angesichts vielfacher Verluste fordert er ein revidiertes, skeptischeres Fortschrittsverständnis.
 

Gewissheiten gehen verloren

Der Begriff Zeitenwende hört sich zwar nach Neuanfang und Hoffnung an, ruft aber eher die Besorgnis hervor, dass es schlechter werden könnte. Westliche Gesellschaften erleben schon jetzt einen Verlust an Sicherheit und Wohlstand. Kritik am Fortschrittsbegriff gibt es nicht nur bei Donald Trump und anderen Populisten: Zweifel an den Zukunftsversprechen gibt es durch die ökologische Zerstörung und Entfremdung.

Ende der Erfolgsgeschichte Deutschland

Lange galt Deutschland als einzige Erfolgsgeschichte: Wirtschaftswunder, Wiederaufbau, Fall der Mauer, Profiteur der Globalisierung – Deutschland ein einziges Sommermärchen? Diese Geschichte war schon immer einseitig, besonders in Ostdeutschland haben viele Menschen Verlust- und Negativerfahrungen gemacht.

Vielfältige Verlusterfahrungen  

In den letzten Jahren Menschen wurden mit den Gefahren des sozialen Abstiegs konfrontiert. Arbeitsplätze in der Industriearbeiterschaft gingen verloren, eine neue Dienstleistungsklasse mit geringem sozialen Status ist entstanden. Ein weiterer Rückschlag für den Fortschrittimperativ ist der Klimawandel, der mit seinen Folgen die Debatte um Verzicht und Wachstumskritik hervorgebracht hat. Der dritte Komplex von Verlust betrifft die politische Regression. Aktuelles Beispiel ist die russische Invasion in der Ukraine, die die europäische Friedensordnung zerstört. Der Glaube, dass die liberale Demokratie und Globalisierung alternativlos ist, ist verlorengegangen. Es zeichnet sich vielmehr eine Konfrontationslinie zwischen dem Westen und autoritären Systemen wie China und Russland ab

Phänomene des Verlusts

Sozialer Abstieg und Statusverlust, Verzicht auf gewohnte Lebensoptionen, politische Regression führen somit zu Phänomenen des Verlusts. Diese Verluste wirken auf Menschen bedrohlich und wirken anders als Gewinne dramatischer. Verloren geht auch ein Teil der Identität, der sich nicht nur in einem niedrigeren Lebensstandard bedeutet, sondern auch das Selbstverständnis, dass man durch eigene Arbeit und Leistung Wohlstand schaffen kann.
Der dritte Aspekt des Verlusts ist, dass auch der Glaube an den Fortschritt selbst verloren geht, viele Menschen haben negative Zukunftserwartungen.

Die Zeit grenzenlosem Konsums ohne Verzicht ist vorbei

Der Glaube an Globalisierung, Internationale Kooperation und Multilateralismus prägten die Zeit zwischen 19990 und 2020. Alternative Strategien sind langfristige Zukunftsperspektiven durch kurzfristiges Krisenmanagement zu ersetzen, ein Zurück in die Vergangenheit wie die Populisten fordern oder die Strategie der Resilienz. Das Credo: Wenn der soziale Aufstieg nicht mehr realistisch ist, sollte es zumindest eine gesicherte Grundversorgung geben
 

Ein skeptischeres Fortschrittsverständnis entwickeln

Autor*innen wie Maja Göpel und Harald Welzer sehen in der Krise als Chance, sie sehen die bisherige Entwicklung eher als Überfluss. Reckwitz möchte die Forderung nach einem „anderen Fortschritt“ mit der Strategie der Resilienz verbinden. Wir müssen mit der Realität der Verluste umgehen. Denn die Verluste sind real: Wenn der Glaube an den immerwährenden Aufstieg, den immer größer werdenden Überfluss oder die friedliche Weltgesellschaft nicht mehr realistisch erscheint, verursacht dies einen Schmerz, der politisch ernst genommen werden muss. Phasen des Fortschritts werden durch Prozesse der Stagnation unterbrochen. Eine Herausforderung der Zeitenwende wird sein, ein skeptischeres Fortschrittsverständnis zu entwickeln und Verluste nicht zu verdrängen.