In der Frankfurter Rundschrau beschreibt Hadja Haruna Oelker die Mär von der Cancel Culture.
Die Sorge vor dem neuen Tugendterror speist sich mehr aus Übertreibung als einer Gefahr.
Immer wieder in den letzten Jahren die Angst vor moralisierenden, überempfindlichen und woken Tugendterroristinnen, Sprachpolizisten, Lifestyle-Linken und Social Justice Warriors beschrieben, die eine Identitätspolitik und Cancel Culture betreiben.
Die Autorin bezweifelt, dass es diese Bedrohung wirklich gibt und verweist auf den umstrittenen Auftritt von Boris Palmer an der Uni Frankfurt. Zum Eklat kam es jedoch, weil der eingeladene Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, erneut das N-Wort benutzte und eine Kritik daran auf holocaustverharmlosende Weise abwehren wollte.
Von Ungerechtigkeiten ablenken und anti-woke Gesetze durchsetzen.
Auch in den USA wurde heftig über Cancel Culture geredet. Untersuchungen zeigen, dass es meistens um überbewertete Einzelfälle geht. Mittlerweile hat eine Gegenbewegung eingesetzt: Über Cancel Culture zu reden, hilft also dabei, nicht über Ungerechtigkeiten sprechen zu müssen. Das führt dazu, anti-woke Gesetze durchsetzen zu können. So hebelte der Oberste Gerichtshof das Recht auf Abtreibung. Floridas Gouverneur Ron DeSantis bekämpft Antidiskriminierungspolitik mit allen Mittel: Er verbot über Homosexualität und Transsexualität zu sprechen und sorgte dafür, dass progressive Bücher verboten werden. In republikanisch regierten US-Bundesstaaten wurden in den letzten Monaten zahlreiche Gesetze erlassen, um woke Firmen zu bestrafen. Mittlerweile hat sich auch eine globale Allianz gebildet, bei der auch Ungarns Regierungschef Viktor Orban aktiv ist.
Diskussion in Deutschland
Die Situation in den USA lässt sich nicht mit der in Deutschland vergleichen. Was sich allerdings ähnelt, sind die Mechanismen anti-woker Haltungen. Das Muster, dem „Gegner“ die Macht entziehen zu wollen, was genau der Logik folgt, die ihm vorgeworfen wird. Dem Theoretiker Antonio Gramsci nach erfolgt ein gesellschaftlicher Wandel zuerst durch die Dominanz auf dem kulturellen Feld, dann erst kommt die politische Veränderung. Das passiert auch in Deutschland, letztes Jahr veranstaltete die liberal-konservativen Denkfabrik R 21 eine Konferenz: „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ Die Initiatoren, u.a. der Autor Ahmad Mansour und Ex-Familienministerin Kristina Schröder warnt vor woken Linken und Rechtspopulisten, die Frage ist aber, ob ihre Kritik ausreichend Distanz zu rechter Feindbestimmung hält.
Einfache Lösungen beliebt, aber meist nicht passend
Cancel Culture ist kein wertneutraler Begriff und reicht für eine differenzierte Diskussion kaum aus. Deshalb liefert diese Idee auch keine adäquate Erklärung für unsere Zustände. Was sie aber tut: Sie bietet einfache Lösungen an, und genau diese waren schon immer beliebt.