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Donnerstag, 11. Juli 2024

Ost-West-Unterschiede: Eine Phantomgrenze durchzieht das Land

Der Soziologe Steffen Mau beschreibt im SPIEGEL eine Phantomgrenze, die Ost und West immer noch teilt.

Gute Entwicklung in vielen Bereichen

Bei vielen statistischen Kennzahlen hat sich der Osten recht gut entwickelt: Die Arbeitslosigkeit ist niedriger geworden, die Renten sind angeglichen. Private und öffentliche Investitionen könnten dafür sorgen, dass sich auch die Produktivitätslücke schließt.
Dennoch sehen einige eine neue Entfremdung, die auf hartnäckige Unterschiede zurückzuführen ist.

Eine Phantomgrenze durch zieht das Land

Der Autor listet eine ganze Reihe von Bereichen auf, in denen es große Unterschiede gibt: Kirchenbindung, Vereinsdichte, Vertrauen in Institutionen und Parteien oder den Anteil an jungen Menschen bzw. Menschen mit Migrationsbiographie.
Große Unterschiede gibt es auch im Bereich der Wirtschaft: der Westen liegt vorn bei der Exportorientierung, dem Hauptsitz großer Firmen, Produktivität und der Kaufkraft, dem Immobilieneigentum und Erbschaftssteueraufkommen. Dass der Osten bei der durchschnittlichen Größe der landwirtschaftlichen Betriebe vorne liegt, macht dies nicht wett.

Den Westen nicht zur Norm machen

Der Autor warnt davor, den Westen überall zur Norm zu machen. Dieser Ansatz begreift den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten.
Während bei Vermögen und Einkommen ein Aufschließen des Ostens wünschenswert wäre, ist es bei Mieten, Schulqualität nicht. Auch die Frauenerwerbsquote, Kita-Abdeckung sollte nicht auf Westniveau sinken. Zurecht verweist er auf Unterschiede im Westen: Wir erwarten von Bayern oder dem Saarland ja auch keine Angleichung an den Rest der Republik.

Der Osten wurde zur Anpassungsgesellschaft, ohne die Blaupause West je zu erreichen

Die Dynamiken von Aufholen, Nachahmen und Angleichen flachen nach 35 Jahren merklich ab merklich ab. Wir sind in die Posttransformationsphase übergegangen, die uns klarer als bisher vor Augen führt: Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter anverwandeln, zu stark wirken die Prägungen der DDR, die Weichenstellungen der Wiedervereinigung und die Lasten der Transformationsjahre.
Im Osten bleiben eigene Strukturen eigene Strukturen erhalten, eigene Mentalitäten, eigene politische Bewusstseinsformen; einige formten sich im Einigungsgeschehen auch neu.

Deutschland ist ungleich vereint – und wird das auch bleiben

Dramatische Eliteschwäche: Der Anteil der Ostdeutschen in Spitzenjobs in Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz und Meiden ist sehr niedrig. Westdeutschland ist recht mittelschichtig, Ostdeutschland hingegen eine einfache Arbeitnehmergesellschaft
Demographisch: Während die Zahl der Menschen in Westdeutschland wächst, schrumpfte die Zahl im Osten (ohne Berlin) von 15 Millionen 1990 auf 12.6 Millionen – weniger als in Bayern. »Schrumpfgesellschaften nehmen oft traditionsbewahrende und defensive Haltungen ein.«
Ostbewusstsein: Lange galt die ostdeutsche Identität als Problemfall, vertreten im Trümmerfeld der Linken. Heute werden Unterschiede herausgearbeitet, auch die Nachwendegeneration sehen Ostdeutsche Unterschiede, die durch Westdeutsche kaum noch wahrgenommen werden.

Gravierende Unterschiede der politischen Kultur

Ostdeutschland bleibt als sozialer und kultureller Erfahrungsraum durch reale Unterschiede, aber auch durch Familiennarrative und mediale Diskurse präsent. Dieser kommt als Opfererzählung, Osttrotz oder Oststolz daherkommen. Dazu passen die aktuellen Bemühungen, das Merkmal »ostdeutsch« in die Register der Identitätspolitik einzutragen und daraus die Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung abzuleiten.
Unterschiede sieht der Autor auch in der politischen Kultur, die er auf die kürzere Demokratiegeschichte aber auch das Zurückdrängen basisdemokratischer Experimente in der Wendezeit.

Neuer Kipppunkt Landtagswahlen?    

Die drei bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland könnte ein neuer Kipppunkt sein. Die AfD versucht sich das ostdeutsche Gefühl zu instrumentalisieren. Das Bündnis Sahra Wagenknecht setzt sich sogar für eine spezielle Förderung von Ostdeutschen ein. FDP, Grünen und SPD drohen Verluste, sodass Regierungsbildungen schwierig werden könnten. Die Parteistrukturen in Ost und West könnten sich noch weiter verschieben.

Ost und West mehr als zwei Himmelsrichtungen

Die deutsche Einheit sieht der Autor nicht in Gefahr „Ostdeutschland ist kein Katalonien 2.0. Aber Ost und West sind in Deutschland mehr als zwei Himmelsrichtungen – und werden das auf absehbare Zeit auch bleiben.