Andreas Reckwitz schreibt im SPIEGEL über die Debattenkultur in Deutschland: Warum der Fokus auf Gewinner und Verlierer eine Gefahr ist
Das „Wir“ als prekäre Größe
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seinem Buch „Wir“ kritisiert, dass der politisch-kulturelle Grundkonsens in Gefahr ist. Reckwitz betont, dass dies „Wir“ schon immer eine prekäre Größe war, da wir keine homogenen Gesellschaften mehr haben. Sie sind durch einen grundsätzlichen Pluralismus geprägt, in dem durch Institutionen zivilisiert werden.
Spätmoderne Gesellschaft wird zur Kampfzone
In der Gegenwart wird die Gesellschaft zur Kampfzone. Im politischen Raum sehen sich westliche Gesellschaften einer rechtspopulistischen Welle ausgesetzt, die auch im digitalen Raum zunehmen zu aggressiven Auseinandersetzungen führt. Die tieferliegende Entwicklung hinter dieser Entwicklung sind „endlose Konflikte zwischen Gewinnern und Verlierern sowie zwischen Tätern und Opfern“- Ständig stellt sich die Frage, wer zu welcher Gruppe gehört.
Ende der industriellen Gesellschaft
Eine gesellschaftliche Ursache ist das Ende der industriellen Gesellschaft mit dem Wandel der Erwerbsstruktur zur postindustriellen Gesellschaft. Viele industrielle Arbeitsplätze sind verschwunden, etwa drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten mittlerweile im Dienstleistungsbereich. Dieser ist sehr unterschiedlich und reicht von einfachen Dienstleistungen zur Wissensökonomie gut qualifizierter Hochschulabsolventen. Dies bewirkt auch eine sozialräumliche Asymmetrie zwischen florierenden Metropolregionen und urbanen Regionen, die von der Deindustrialisierung betroffen sind.
Aufwärts- und Abwärtsdynamiken und permanentes Sichvergleichen
Die postindustrielle Gesellschaft enthält gleichzeitig verlaufende Aufwärts- und Abwärtsdynamiken. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Ökonomisierung des Sozialen. Die Logik des Wettbewerbs und der Konkurrenz führte unter anderem zu immer größeren Unterschieden bei der Bildung und auf dem Wohnungsmarkt. Die ungleiche Verteilung von Erbschaften trägt zusätzlich zur spätmodernen Gewinner-Verlierer-Dynamik bei.
Ein wichtiger Aspekt ist hier die relative Deprivation: Menschen können sich auch als Verlierer wahrnehmen, wenn sie nur im Vergleich zu anderen zurückfalle: Man scheint selbst auf der Stelle zu treten, während andere – Hochschulabsolventen, erfolgreiche Frauen, Migranten – in der sozialen Hierarchie an einem scheinbar vorbeiziehen. Dieses ständige Sichvergleichen wird durch die Allgegenwart digitaler Medien geschürt. Bilder von Urlaubsorten, Restaurantbesuchen und opulenten Häusern schürt den Groll jener, die sich als zu kurz gekommen wahrnehmen.
Gewinner-Verlierer-Konstellationen in vielen Bereichen
Die Gewinner-Verlierer-Konstellation bekommt besondere Brisanz in Märkten, in denen sich der Ertrag auf wenige konzentriert. Beispiele sind hier wenige Professuren bei vielen Nachwuchswissenschaftler, Immobilienmärkte oder die Aufmerksamkeit: Man lebt in einer Gesellschaft permanenter Wettkämpfe, und wer dabei erfolgreich ist, hängt nicht unbedingt von der eigenen Leistung ab.
Die Frage „Wer gewinnt, wer verliert?“ stellt sich auch zwischen Generationen (Muss die Generation Z den Boomern eine Rente zahlen) und im Geschlechterverhältnis: Sind nun die Jungen die Verlierer oder weiterhin die Frauen aufgrund der Doppelbelastung von Beruf und Familie.
Aus Gewinnern-Verlierer werden Täter-Opfer
Aus dieser Gewinner-Verlierer-Konstellation entsteht ein neues Deutungsmuster zwischen Tätern und Opfern – einem Konflikt „wir gegen die“. Im 20. Jahrhundert gab es viele Opfer durch Kriege oder Verbrechen. Diese Opfer mussten sich die Sichtbarkeit erkämpfen: Opfer des Holocaust, von sexuellen Übergriffen. Bewegungen wie #MeToo haben zu einer Ermächtigung von Opfern geführt: Opfer ist hier keine negative Kategorie mehr, sondern Personen, die ihre Rechte einfordert – gegenüber der Öffentlichkeit und den Tätern. Diese Unterscheidung schafft im Wettbewerb um Aufmerksamkeit eindeutige Verhältnisse.
Opfermythos im Rechtspopulismus
Eva Illouz beschreibt diesen Opfermythos als Element des Rechtspopulismus. Erschien man vorher als ein Verlierer im Modernisierungsprozess, kann man sich nun als ungerechtfertigtes Opfer interpretieren. Die anderen „liberalen Kosmopoliten“ sind schuld an einem unfairen Spiel. De Täter-Opfer-Zuschreibung findet auch in analogen und digitalen Meiden statt. Auch Prominente werden oft als vermeintliche Opfer oder Täter an den Pranger gestellt.
Deutungskonflikt um den Opferstatus
Bei politischen Themen zeigt sich der Deutungskonflikt beim Israel-Palästina nach dem 7. Oktober. Ist Israel Täter, da sie für die Vertreibung verantwortlich sind oder – seit Jahrhunderten – historisches Opfer? Die Zuordnungen sind hochgradig umstritten, typisch aber ist, dass die Täter-Opfer-Unterscheidung eindeutige Verhältnisse suggeriert und differenziertere Betrachtungsweisen hemmt.
Täter-Opfer-Denken als verführerischer Dualismus
Das Denken in Täter-Opfer schafft vermeintlich klare Verhältnisse. Das gesellschaftliche Wir gerät dadurch aber weiter in Bedrängnis, wenn es nun um Täter und Opfer geht. Diesen Prozess gilt es zu entzerren. Reckwitz ist skeptisch. Falls dies nicht gelingt, ist das Risiko groß, dass sich die gesellschaftliche Kampfzone weiter ausdehnt.