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Samstag, 24. August 2024

Was heißt hier Fortschritt?

In der ZEIT beschäftigt sich der bekannte Soziologe Andreas Reckwitz mit der Frage, was Fortschritt bedeutet.

Fortschritt beliebter und unklarer Begriff

Die Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberale wollte eine Fortschrittskoalition sein und hatte hoch gesteckte Ziele: ökologisch-wirtschaftliche Modernisierung, gesellschaftspolitische Öffnung, sozialpolitische Neujustierung. Nach Streit und Krisen stellt sich aber nicht nur für die Regierung die Frage: Was kann Fortschritt als Ziel der Politik im 21. Jahrhundert bedeuten?

Westliche Demokratien und Fortschritt miteinander verwoben

Es wird regelmäßig gestritten, um welchen Fortschritt es gehen soll – mehr Freiheit oder mehr Gleichheit, mehr Wohlstand oder mehr Technologie, mehr Staat oder mehr Markt –die Hoffnung auf Fortschritt ist für westliche Demokratien entscheidend. Den Höhepunkt des Fortschrittsoptimismus gab es nach dem 2. Weltkrieg: Wirtschaftswachstum, sozialer Aufstieg breiter Schichten, technologische Innovationen und Aufbau des Sozialstaates. Nach dem Mauerfall folgten mit Globalisierung und Digitalisierung ein weiterer Schub.

Nüchternes Verständnis von Fortschritt notwendig

Die aktuellen Krisen haben die Hoffnung auf das Vertrauen nachhaltig beschädigt. Wenn die positiven Zukunftserwartungen schrumpfen, die Politik jedoch weiterhin Fortschrittsgewissheit predigt, wird das politische Vertrauen weiter schwinden. Allerdings sollte die Fortschrittsorientierung nicht aufgegeben werden, sondern durch ein revidierten, nüchternes Fortschrittsverständnis ersetzt werden.

Vier Aspekte für sind dabei wichtig:

Hoffnung auf automatische Entwicklung zum Besseren aufgeben

Die Hoffnung auf eine automatische Entwicklung zum Besseren sollte aufgegeben werden. Die realistische Einschätzung kann zur einer umsichtigeren und wachsameren Haltung gegenüber Risiken führen. Fortschritt ist möglich, aber er bleibt prekär.

Resilienz steigern

Liberale Demokratien sind verletzlich. Deshalb ist es wichtig die Resilienz zu steigern. Dies bedeutet Institutionen, Lebensformen und ihre Qualitäten so zu sichern, dass sie gegen negative Ereignisse abgepuffert werden. Ein Beispiel wäre eine aktive Klimapolitik als ein Projekt ökologischer Resilienz verstehen

Mit Verlusten umgehen lernen

Eine Gesellschaft muss lernen mit Verlusten umzugehen. Verluste können einzelne soziale Gruppen als auch die ganze Gesellschaft betreffen: Der Klimawandel bedeutet einen Wohlstandsverlust für alle. Ein kluger gesellschaftlicher Umgang mit Verlusten müsste verhindern, dass diese in endlose Auseinandersetzungen zwischen Verlierern und Gewinnern, zwischen Opfern und Tätern münden.
Der Populismus beutet die Verlusterfahrungen aus – die etablierte Politik sollte diese Erfahrungen offen verhandeln: - dies wäre ein besonderer Fortschritt: eine Gesellschaft, die an Reife gewinnt und erwachsen wird, indem sie manchen Verlusten offen ins Gesicht sieht und (trotzdem) mit ihnen weiterlebt.

Fortschritt auch in der Vergangenheit suchen

Man sollte in die Vergangenheit blicken: vieles von dem Erreichten ist bewahrenswert und zugleich in Gefahr: Eine funktionierende liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, eine vom Mittelstand geprägte erfolgreiche Wirtschaft.

Fortschrittlich sein heißt Fortschrittserbe zu schützen

Die Schlussfolgerung lautet für Reckwitz deshalb, dass auch die Progressiven die Vergangenheit bewahren müssen, wie man es aus der Vergangenheit von den Konservativen kannte. Dabei geht es nicht um ein vormodernes Erbe, sondern um den Erhalt von Fortschritten der Vergangenheit: Fortschrittlich sein heißt heute also auch, das zerbrechliche Fortschrittserbe zu schützen und weiterzuentwickeln.