In einem Interview im SPIEGEL stellt Andreas Reckwitz sein neues Buch „Verlust“ vor.
Reckwitz ist einer der einflussreichsten Soziologen. In seinem Werk „Die Gesellschaft der Singularität“ beschreibt er den Aufstieg einer neuen Mittelklasse, meist urban lebende, kreativ arbeitende, kosmopolitische Akademiker, die die alte Mittelklasse der Handwerker und Facharbeiter mitsamt ihrer Werte und Lebensentwürfe zurückdränge.
Verlust des Fortschrittsnarrativ
Die Zeit nach dem Mauerfall war vom Fortschrittsoptimismus geprägt: der Glaube an die Globalisierung, die Vernetzung, die gesellschaftliche Liberalisierung, die Wissensgesellschaft. Probleme wie den Klimawandel oder Deindustrialisierung gab es schon damals, die Verluste waren aber nicht so im Fokus.
Verlust als Grundproblem der Moderne
Für Reckwitz ist Verlust mit Verschwinden und negativen Emotionen verbunden: Trauer, Wut, Angst. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens, welche Verluste zu beklagen sind. Manchen trauern um ihre Privilegien oder wenden sich lautstark gegen Veränderungen. Verlust ist für Reckwitz ein Grundproblem der Moderne, da das Alte permanent durch Neues abgelöst wird. Bisher konnten Verluste relativiert waren, sie waren „das schmutzige Geheimnis des Fortschritts.“
Die Zukunft ist keine Verheißung mehr
Dieser Ausgleich wird in Zukunft nicht mehr funktionieren. Kaum jemand glaubt mehr, dass es den eigenen Kindern in 20 Jahren besser gehen wird. Auch klimawissenschaftliche Szenarien prognostizieren eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Bereits 1985 sprach Jürgen Habermas von der „Erschöpfung utopischer Energie“ – rückblickend waren die 90er Jahre eher die Ausnahme in einer „Verlust-Eskalation“.
Westliche Moderne ist an einer Grenze angekommen
Die Fortschrittserwartung war wie eine Decke, die Verlust verhüllt. Wird die Decke weggezogen, kommen Verluste zum Vorschein. An die Grenze ist die Moderne auch bei der Natur gekommen wie der Klimawandel zeigt. Verlierer artikulieren sich heute deutlicher, d.h. viele Kontroversen drehen sich nun um Verluste. Man will nicht ein größeren Stück des Kuchens, sondern die Anerkennung von Verlusten – Opfer fordern Sichtbarkeit.
Individuen hoffen auf persönliche Erfüllung
Kollektive Utopien haben an Glaubwürdigkeit verloren, dafür hoffen einzelne Individuen auf Verbesserung. Während sie für die Gesellschaft pessimistisch sind, sehen viele Menschen ihre Zukunft optimistisch. Es geht nicht mehr darum, zu gewinnen, sondern nicht so drastisch zu verlieren. Eine alternde Gesellschaft wird zwangsläufig verlustaffiner.
Populismus ist Verlustunternehmertum
Für die Politik ist dies eine Herausforderung, denn sie ist vom Fortschrittsversprechen geprägt. Gewinner sind Populisten, die bei Menschen gut ankommen, die Status- oder Machtverluste erfahren haben oder befürchten. Diese Erfahrungen sollte man ernst nehmen- Das Ende des Patriarchats bedeutet für viele Männer einen – manche würden sagen: überfälligen – Machtverlust. Die Politik sollte diese Verluste anerkennen und offen sprechen, zum Beispiel über irreversible Klimaschäden oder die Erschütterung der globalen Sicherheitsarchitektur,
Einen Umgang mit Negativereignissen finden
Gesellschaften müssen resilienter werden und mit Negativereignissen umgehen können – sie vermeiden oder sie abzumildern. Beispiele sind ein besserer Umgang mit der nächsten Pandemie und dem Klimawandel. „Eine Gesellschaft, die Verluste nicht von sich abspaltet, wäre selbst eine bessere.“
Errungenschaften der Moderne bewahren
Für Reckwitz geht es darum, die Errungenschaften der Moderne zu bewahren. Er zeichnet verschiedene Szenarien auf: Die Hoffnung durch Fortschritt den Klimawandel technisch in den Griff zu bekommen, sodass die Modernisierungsverlierer und damit die Populisten aussterben. Denkbar wäre aber auch das andere Extrem - der Kollaps der Moderne.
Das dritte Szenario bezeichnet Reckwitz als „erwachsene Moderne“. Er verliert Lebensideale, aber erwirbt Verlustkompetenz. Für Reckwitz war auch die Beschäftigung mit dem Thema überwiegend positiv: Sie lässt die Probleme, unter denen man leidet, nicht verschwinden – aber man kann sie besser handhaben.