In der ZEIT kommentiert Paul Middelhoff die Debatte über Cancel-Culture. Lange Zeit wurde dies Linken unterstellt, doch seit Trump kommt sie von rechts.
Woke gilt nicht mehr als schick
Manche Diskussionen waren für den Autor befremdlich, so die Debatte, ob eine weiße Autorin über eine mexikanische Protagonistin schreiben darf. Wokeismus war das Ansinnen derjenigen, die eloquent Diskriminierungserfahrung in kommunikative Macht verwandeln konnten. Diese vermeintliche Diskurshoheit ist spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps. Die Rache ist der Rechten bedient sich der selben Mittel, ist aber ungleich mächtiger.
Regierung und Techunternehmer untergraben Meinungsäußerung
Die Trump-Regierung möchte die Nutzung von Begriffen abraten bzw. davon abraten, dazu zählen Sex, Klimakrise oder ureinwohner. Er droht Universitäten mit Geldentzug und Studenten sogar mit Gefängnis, wenn sie sich an „illegalen Demonstrationen“ beteiligen. Schon länger verbieten republikanisch dominierte Staaten Bücher, die ihnen zu kritisch sind.
Amazon-Gründer Jeff Bezos geht noch einen schritt weiter. Er verordnet der Redaktion seiner Zeitung "persönliche Freiheiten" und "freie Märkte" zu verteidigen, abweichende Standpunkte würden nicht mehr veröffentlicht. Er pflanzt seinen Redakteuren ein Frage in den Kopf, die Gift ist für den Journalismus: "Darf ich das schreiben?"
Vizepräsident Vance beklagt fehlende Meinungsfreiheit in Europa
Vor diesem Hintergrund ist der Verwurf von Vizepräsident Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz besonders fragwürdig, dass die Europäer sich vom heiligen amerikanischen Grundrecht auf freedom of speech entfernt haben. Auch wenn es an einzelnen Maßnahmen Kritik geben kann, lässt sich dies nicht mit dem Vorgehen der Amerikaner zu vergleichen: Der linke Wokeismus speiste sich aus Moral, er kam von der Seite, der rechte Wokeismus speist sich aus der Macht, er kommt von ganz oben.
Wer es ernst gemeint hat mit der Verteidigung der Freiheit gegen den linken Moralismus, der sollte sich nun mindestens genauso entschlossen dem rechten Gesinnungsfuror entgegenstellen. Er braucht dafür nur möglicherweise noch mehr Mut.