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Sonntag, 10. August 2025

Unsere Gesellschaft ist verrohter als viele denken

In einem Beitrag für den SPIEGEL  kritisiert der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, dass Gewalt und Rücksichtslosigkeit kleineredet werden: Diese Selbsttäuschung muss aufhören, sonst wird sich das Problem noch verschärfen

Unsere Gesellschaft verroht 

Umfragen zeigen, dass viele Menschen eine Verrohung der Gesellschaft spüren, sie beklagen mehr Egoismus und eine gesteigerte Aggressivität. Einige führen die ansteigende Zahl von Straftaten auf eine erhöhte Anzeigenbereitschaft und mehr Polizeiarbeit zurück. Diese Sensibilisierungsthese soll beruhigend wirken: So schlimm ist es gar nicht. Heitmeyer widerspricht dieser These und verweist auf die zahlreichen Befunde im gesellschaftlichen Alltag. 

Durchrohung mi unterschiedlichen Gewaltformen 

Für ihn ist Durchrohungsthese zutreffender. Der Begriff der Durchrohung beschreibt, wie private, öffentliche oder institutionelle Strukturen Menschen dazu stimulieren, Macht zerstörerisch einzusetzen. Die Gewaltformen reichen von Demütigung über Hass zu Gewalt. Diese Gewalt gibt es im privaten und öffentlichen Raum: gegen Polizei und Rettungskräfte, im Straßenverkehr, Schulen, in ökonomischen Räumen gegen Beschäftige, in der Politik und nicht zuletzt in den virtuellen Räumen des Internets. Er stützt sich dabei auf „unbeleuchtete Dunkelzonen“, d.h. Umfragen bei Ärzten, Mitarbeitern öffentlicher Einrichtungen, die über zunehmende Angriffe klagen. 

Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Verhalten 

Die These von der Durchrohung sieht einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Verhalten.
Die zentrale gesellschaftliche Struktur ist das Wirtschaftssystem. Der Kapitalismus muss sich um des eigenen Überlebens willen immer weiter ausbreiten und betrifft zunehmend auch den sozialen Bereich. Dadurch werden Menschen bewertet, wie nützlich, verwertbar und effizient sie sind. Der deregulierte Turbokapitalismus hat zu massiven sozialen Ungleichheiten geführt: 
Die Gesellschaft fällt dadurch zunehmend auseinander, viele Menschen fühlen sich verletzt und vermissen gesellschaftliche Anerkennung. Untersuchen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gewalttaten. 

Soziale Individualisierung und kulturelle Singularisierung 

Der Soziologe Ulrich Beck hat die Individualisierungsprozess der Moderne bestimmt. Nicht mehr Herkunft und Klassenzugehörigkeit, sondern das individuelle Handeln ist prägend. Sie sind gezwungen, ihren Lebensplan durchzusetzen. Je individueller die Lebensplanung wird, desto mehr widersprüchliche und unklare Anforderungen werden an den Menschen gestellt. 
Der Soziologe Andreas Reckwitz betont die Logik des Besonderen, das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Diese Kriterien ändern sich ständig. Der zentrale Modus dieser kulturellen Singularisierung ist die Demonstration von Überlegenheit in der Alltagskommunikation.

Subjektivierung von Werten und Erosion von Normen

Beide Prozesse haben weitrechende Folgen. Sie betreffen die Subjektivierung von Werten (»Was als Wert gilt, bestimme ich«) und die Erosion von Normen (»Woran ich mich halte, bestimme ich«). Reckwitz verweist zudem auf die Relevanz von Affekten. Diese negativen Emotionen führen zur Verbreitung von Hass und Gewalt. Das inzwischen von autoritären Bewegungen und Parteien propagierte Ideal harter Männlichkeit verschärft die Problematik.
Wir erleben eine Abfolge von Krisen, in denen politische Instrumente nicht mehr funktionieren und viele Menschen dadurch Kontrollverluste erfahren. Das verringert das Gefühl, das eigene Leben selbstwirksam gestalten zu können und der Erwartung nach Einzigartigkeit zu entsprechen.

Debatte über Durchrohung ist notwendig 

Heitmeyer betont, dass die beschriebenen Strukturen, der Verlust von Empathie und die schwindende Bindung von Rechtsnormen zu dieser Verrohung führen. Beunruhigend ist, dass dies im Interesse von Akteuren mit Macht und Einfluss ist, die uns weiterhin etwas vorlügen können. Dazu gehören Wirtschaftsführer, die vom Kapitalismus profitieren, Politiker, die diese ökonomischen Strukturen nicht thematisieren und Meiden, die nicht auf diese Zusammenhänge hinweisen. Er fordert deshalb eine „produktiv radikale Debatte über die gesellschaftliche Produktion der Durchrohung“, ansonsten werden die Probleme weiter zunehmen – und das Bemühen, sie zu verdrängen.