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Freitag, 15. August 2025

Weniger Migrantenkinder - bessere Bildung?

Martin Spiewak analysiert in der ZEIT die Forderung der neuen Bildungsministerin Karin Prien nach einer Obergrenze für Schüler mit Migrationshintergrund. Er fordert stattdessen gezielte Maßnahmen, um Schulen gezielt zu unterstützen. 

Heftige Diskussionen nach Priens umstrittenem Vorschlag 

Bundesbildungsministerin Karin Rien hat in Interviews über eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund nachgedacht. Wie sie selber sagte, steht diese Begrenzung weder im Koalitionsvertrag, noch ist sie zuständig. Auch der Begriff „Quote“ ist fragwürdig, denn es soll ja nicht wie z.B. bei der Frauenquote ein bestimmtes Ziel erreicht werden, sondern begrenzt werden. Dennoch entwickelte sich eine heftige Diskussion: Sorgen Kinder mit Migrationshintergrund für sinkende Lernniveaus. Profitieren sie vielleicht sogar von diesen Ideen? 

Der Autor stellt Erkenntnisse aus der Wissenschaft vor: 

1. Sind Einwandererkinder für die schlechten Leistungen verantwortlich?

Tatsächlich zeigen Schulvergleiche, dass Schüler mit Einwanderungsgeschichte schlechtere Leistungen erbringen, in Deutschland fallen diese Unterschiede sogar besonders groß aus. Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass die widrigen Umstände viel entscheidender sind. Studien zeigen, dass Kinder aus armen und bildungsfernen Familien schlechtere Leistungen zeigen, egal ob sie eingewandert sind oder nicht – ein "Hartz-IV-Deckel" wird jedoch bislang nicht gefordert.

2. Gibt es einen Anteil an zugewanderten Schülern, ab dem das Lernen nicht mehr funktioniert?

Studien zeigen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Lernerfolgen und dem Anteil an Migranten gibt: Ein Schüler hat in einer Klasse mit 15 Prozent Anteil Zugewanderter größere Chancen, Fortschritte zu machen, als in einer mit 30 Prozent. Allerdings gibt es keinen Kipppunkt, ab dem negative Effekt besonders ausgeprägt sind. 

3. Ist Dänemark ein Vorbild? Oder die USA?

Dänemark wird als Vorbild genannt, allerdings gibt es dort keine Obergrenzen für Schulklassen. Stattdessen will man Stadtteile mit vielen Migranten aus „nicht-westlichen“ Herkunftsstaaten per Dekret verändern. Die Kinder dieser Viertel müssen verpflichtend eine Kita besuchen und Sprachtests absolvieren.
Das bekannteste Beispiel war die USA, die die Rassentrennung durch „Busing“ verändern wollte. Schüler aus armen schwarzen Vierteln wurden mit wohlhabenden weißen Vierteln gemischt. Auch die frühere Vizepräsidentin Kamala Haris hat davon nach eigenen Angaben davon profitiert. Es gab heftigen Widerstand und Ausschreitungen, zum Teil flohen weiße Eltern aus den Schulbezirken. Studien zeigen, dass sich in den gemischten Klassen die Leistungen der schwarzen Schüler verbesserten, ohne dass die weißen Schüler weniger lernten.

4. Ließe sich ein "Migrantendeckel" in Deutschland umsetzen?

In West-Berlin wurden solche Maßnahmen erprobt, allerdings scheiterte das Proberamm, weil Fahrkosten nicht übernommen wurden, vor allem aber, weil ein umgekehrter Transfer von Schülern ohne Migrationshintergrund auf große politische Widerstände stieß. Der Autor vermutet, dass auch heute die überwiegend nichtmigrantischen Akademikereltern ein Hindernis für die Durchsetzung der Obergrenze. „Sie mögen sich für weltoffen halten, sind aber die wahren Treiber der Segregation“. 
Als in Nordrhein-Westfalen die Pflicht aufgehoben wurde, sein Kind auf eine Schule im Umkreis zu schicken, mied die bildungsbewusste deutsche Mittelschicht fortan die Schulen vor der eigenen Haustür, sofern dort Kinder aus armen und bildungsfernen Familien lernten. Auch in sozial durchmischten Stadtvierteln sind die Schulen segregiert, verantwortlich dafür sind die Eltern."
Eine Obergrenze bei 30 oder 40 Prozent ist zudem schon aus demografischen Gründen unrealistisch: Der Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte unter den 0- bis 15-Jährigen lag in Deutschland im vergangenen Jahr bereits bei 42,5 Prozent. Man müsste Kinder aus Bremen also nach Bautzen schicken. 

5. Was könnte helfen?

Solange es segregierte Stadtteile gibt, wird es segregierte Schulen geben. Deshalb müssten Schüler, die es herkunftsbedingt schwerer haben, stärker unterstützen: mehr Lehrkräfte, Nachhilfe, gezielte Arbeit in den Familien. Hamburg macht es vor: sogenannte Brennpunktschulen werden direkt gefördert. Ein ähnliches Programm soll für die Kitas kommen. In der frühen Bildung sehen so gut wie alle Experten das größte Potenzial. Bisher funktionieren die Maßnahmen. Selbst nach mehreren Jahren in der Kita haben viele Einwandererkinder nicht genug Deutsch gelernt, um bei der Einschulung dem Unterricht gut folgen zu können.
Der Autor fordert: „Eine gezielte Privilegierung von unterprivilegierten Schulen und Kitas – mehr Fachkräfte, attraktivere Gebäude, bessere Förderprogramme – könnte sogar für alle Eltern interessant sein. Und am Ende die Debatte über Deckel, Obergrenzen oder Quoten überflüssig machen.“

Sonntag, 10. August 2025

Unsere Gesellschaft ist verrohter als viele denken

In einem Beitrag für den SPIEGEL kritisiert der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, dass Gewalt und Rücksichtslosigkeit kleineredet werden: Diese Selbsttäuschung muss aufhören, sonst wird sich das Problem noch verschärfen

Unsere Gesellschaft verroht 

Umfragen zeigen, dass viele Menschen eine Verrohung der Gesellschaft spüren, sie beklagen mehr Egoismus und eine gesteigerte Aggressivität. Einige führen die ansteigende Zahl von Straftaten auf eine erhöhte Anzeigenbereitschaft und mehr Polizeiarbeit zurück. Diese Sensibilisierungsthese soll beruhigend wirken: So schlimm ist es gar nicht. Heitmeyer widerspricht dieser These und verweist auf die zahlreichen Befunde im gesellschaftlichen Alltag. 

Durchrohung mi unterschiedlichen Gewaltformen 

Für ihn ist Durchrohungsthese zutreffender. Der Begriff der Durchrohung beschreibt, wie private, öffentliche oder institutionelle Strukturen Menschen dazu stimulieren, Macht zerstörerisch einzusetzen. Die Gewaltformen reichen von Demütigung über Hass zu Gewalt. Diese Gewalt gibt es im privaten und öffentlichen Raum: gegen Polizei und Rettungskräfte, im Straßenverkehr, Schulen, in ökonomischen Räumen gegen Beschäftige, in der Politik und nicht zuletzt in den virtuellen Räumen des Internets. Er stützt sich dabei auf „unbeleuchtete Dunkelzonen“, d.h. Umfragen bei Ärzten, Mitarbeitern öffentlicher Einrichtungen, die über zunehmende Angriffe klagen. 

Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Verhalten 

Die These von der Durchrohung sieht einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Verhalten.
Die zentrale gesellschaftliche Struktur ist das Wirtschaftssystem. Der Kapitalismus muss sich um des eigenen Überlebens willen immer weiter ausbreiten und betrifft zunehmend auch den sozialen Bereich. Dadurch werden Menschen bewertet, wie nützlich, verwertbar und effizient sie sind. Der deregulierte Turbokapitalismus hat zu massiven sozialen Ungleichheiten geführt: 
Die Gesellschaft fällt dadurch zunehmend auseinander, viele Menschen fühlen sich verletzt und vermissen gesellschaftliche Anerkennung. Untersuchen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gewalttaten. 

Soziale Individualisierung und kulturelle Singularisierung 

Der Soziologe Ulrich Beck hat die Individualisierungsprozess der Moderne bestimmt. Nicht mehr Herkunft und Klassenzugehörigkeit, sondern das individuelle Handeln ist prägend. Sie sind gezwungen, ihren Lebensplan durchzusetzen. Je individueller die Lebensplanung wird, desto mehr widersprüchliche und unklare Anforderungen werden an den Menschen gestellt. 
Der Soziologe Andreas Reckwitz betont die Logik des Besonderen, das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Diese Kriterien ändern sich ständig. Der zentrale Modus dieser kulturellen Singularisierung ist die Demonstration von Überlegenheit in der Alltagskommunikation.

Subjektivierung von Werten und Erosion von Normen

Beide Prozesse haben weitrechende Folgen. Sie betreffen die Subjektivierung von Werten (»Was als Wert gilt, bestimme ich«) und die Erosion von Normen (»Woran ich mich halte, bestimme ich«). Reckwitz verweist zudem auf die Relevanz von Affekten. Diese negativen Emotionen führen zur Verbreitung von Hass und Gewalt. Das inzwischen von autoritären Bewegungen und Parteien propagierte Ideal harter Männlichkeit verschärft die Problematik.
Wir erleben eine Abfolge von Krisen, in denen politische Instrumente nicht mehr funktionieren und viele Menschen dadurch Kontrollverluste erfahren. Das verringert das Gefühl, das eigene Leben selbstwirksam gestalten zu können und der Erwartung nach Einzigartigkeit zu entsprechen.

Debatte über Durchrohung ist notwendig 

Heitmeyer betont, dass die beschriebenen Strukturen, der Verlust von Empathie und die schwindende Bindung von Rechtsnormen zu dieser Verrohung führen. Beunruhigend ist, dass dies im Interesse von Akteuren mit Macht und Einfluss ist, die uns weiterhin etwas vorlügen können. Dazu gehören Wirtschaftsführer, die vom Kapitalismus profitieren, Politiker, die diese ökonomischen Strukturen nicht thematisieren und Meiden, die nicht auf diese Zusammenhänge hinweisen. Er fordert deshalb eine „produktiv radikale Debatte über die gesellschaftliche Produktion der Durchrohung“, ansonsten werden die Probleme weiter zunehmen – und das Bemühen, sie zu verdrängen.

Montag, 4. August 2025

Die junge Generation ist sensibel und klug

In einem Interview im SPIEGEL betont der Jugendforscher Klaus Hurrelmann: „Ich halte die junge Generation nicht für faul, sondern für sensibel und klug“. 

Junge Menschen werden in einer krisengeschüttelten Welt groß 

Studien zeigen, dass sich junge Menschen stark belastet fühlen – nicht erst seit der Coronapandemie. Der Anteil derjenigen, die therapeutische Hilfe benötigen, hat sich auf 20 % erhöht. Zwar mussten auch frühere Generationen mit Herausforderungen umgehen, wie z.B. durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Heute sehen sich jüngere Menschen aber vielen Krisen gegenüber. 
Durch digitale Kanäle wird jedes Ereignis verstärkt, dramatisiert und multipliziert. Fast ein Drittel der jungen Menschen haben keine Kontrolle über ihren Social-Media-Konsum. 

Sorgen um Krieg in Europa und Inflation 

Die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ zeigt, dass mittlerweile der Krieg in Europa und die Inflation die größten Sorgen von Jugendlichen sind – nicht mehr der Klimawandel wie bei der letzten Studie vor fünf Jahren. Viele haben Angst, dass ihre Arbeit in zehn Jahren noch sicher ist und sie sich das Leben leisten können. Die steigenden Preise verstärken diesen Effekt. Daran ändert auch der Fachkräftemangel nichts, denn die Jungen werden viel Verantwortung stemmen müssen. 

Klimawandel kein großes Thema mehr 

Für Hurrelmann war die Coronapandemie entscheidend, dass der Klimawandel keine große Rolle mehr spielt, denn die beiden Hebel von Fridays for Future – Schulschwänzen und Demonstrieren – wurden hinfällig. Er bedauert dies, denn er sah die Chance auf gesellschaftliche Veränderungen. Zahlenmäßig waren mehr Menschen beteiligt als bei der 68er Generation. 

Kinder zu sehr in Watte gepackt 

Die Kinder der 68er haben laut Hurrelmann ihre Kinder zu sehr in Watte gepackt. Studien zeigen, dass die Hälfte der Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder oft überfordert ist und ein Drittel sogar erschöpft und am Rande ihrer Möglichkeiten. Viele Eltern hinken den technischen Möglichkeiten ihrer Kinder hinterher und haben ihren eigenen Medienkonsum nicht im Griff. Folglich hält er auch für Verbote von sozialen Medien für kontraproduktiv. Besser wäre es, die Konzerne zu regulieren.

Generationen müssen im Dialog bleiben 

Er beklagt, dass ältere und jüngere Menschen immer weniger Bezugspunkte haben. Dabei wäre ein Dialog und die Akzeptanz wichtig, damit jeder seine Stärken einbringen kann. In Parteien, Vereinen und Kirchen ist das Durchschnittsalter hoch, junge Menschen diskutieren auf ihren digitalen Plattformen. Eine Wehrpflicht oder ein soziales Pflichtjahr befürwortet er nur, wenn alle in die Pflicht geworden, z.B. durch einen Pflichtdienst für Senioren. 

Die junge Generation verhält sich solidarisch

Hurrelmann betont, dass sich die junge Generation bereits solidarisch verhält. Während der Coronapandemie wurden sie als Letzte geimpft und schulen waren lange geschlossen. Sie tragen das Rentensystem und müssen immense Schuldenberge abbauen: Die Jungen leisten viel – auch wenn die Alten gern auf sie schimpfen.  Er fordert einen flexibleren Renteneintritt. Warum sollen Menschen mit 65 plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen sein? Er selbst hat nun mit 81 Jahren ein Buch über die Jugend geschrieben und versucht den Kontakt zu jüngeren Menschen zu halten. 

Junge Menschen haben ein gutes Gespür 

Hurrelmann bestreitet, dass jungen Menschen nicht mehr leistungsbereit sind. Sie blicken auf die gestressten Eltern, die dem Beruf alles untergeordnet haben, oft auch die eigene Gesundheit. Daher hält es für verständlich, dass sie andere Schwerpunkte setzen. Er lobt die Klimabewegung, die viel bewegt hat und kritisiert den Rechtsruck, auch wenn er die Ursachen herleiten kann. 
An seiner eigenen Generation kritisiert er, dass sie die Lebensleistung der Nachkriegsgeneration nicht ausreichend anerkannt hat, da diese unter katastrophalen Bedingungen ihren Alltag gemeistert haben.