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Dienstag, 4. November 2025

Zerstörungslust – manche Menschen wünschen Gewalt für soziale Probleme

Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben ein Buch „Zerstörungslust“ mit brisanten Ergebnissen veröffentlicht. Eine kleine Gruppe von Menschen wünscht sich Gewalt und drakonische Strafen als Mittel zur Lösung sozialer Probleme. Über das Buch berichtete der Focus, außerdem gaben die Autoren Interviews im SPIEGEL, der ZEIT  und der Süddeutschen Zeitung

Menschen mit „destruktiven Tendenzen“

Amlinger und Nachtwey führten Interviews mit 2600 Menschen. Bei einer Gruppe von 12,5 % stellten sie „destruktive Tendenzen“ fest. Diese befragten sie weiter. 
Sie unterscheiden dabei zwischen drei Typen: 

  • Den Erneuerer, der das liberale politische System zerstören will, damit traditionelle Hierarchien an seine Stelle treten. 
  • Den Zerstörer, der gar nicht an eine bessere Zukunft glaubt und die Zerstörung als Selbstzweck sieht. 
  • Den Libertär-Autoritären, der die aktuelle Form der Regulierung ablehnt und sich einen neuen, wirtschaftlich befreiten, aber gesellschaftlich autoritären Staat wünscht.


Nullsummen-Denken als zentrale Rolle 

Das Denken dieser Menschen ist oft durch Nullsummen-Denken geprägt. Verluste der eigenen Gruppe werden als Gewinne anderer interpretiert und umgekehrt. Ein klassisches Beispiel dafür ist, dass Migranten den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen. Ihnen ist auch der Gedanke des Fortschritts abhanden gekommen  - war früher der bessere Job oder das bessere Auto des Nachbars ein Ansporn, ist es heute das Gefühl, dass ein guter Job weniger verfügbar ist. 

Zerstörungslust häufig in Verbindung mit biografischer Brüche 

Viele der Befragten betrachten ihr Leben als blockiert. Obwohl sie sich Mühegeben, haben sie keinen Erfolg. Viele Menschen haben Scheidung, Kündigung oder der Zwangsversteigerung des geliebten Eigenheim
Sie fühlen sich fremdbestimmt und sind bereit Schwächere zu demütigen und zu quälen. Obwohl Klimakleber oder trans Personen keine Konkurrenz sind, betrachten sie diese als ein Zeichen von sehr schnellen Wandels an Normen. 

Demokratischer Faschismus 

Die befragten Menschen bekennen sich zur Demokratie, sie wollen Wahlen gewinnen – und genießen gleichzeitig Grausamkeit und Gewalt. Sie bekennen sich zur Demokratie – sie wollen aber eine Demokratie für die sogenannten Normalen – andere werden ausgeschlossen. Dadurch sind die beiden Begriffe kein Widerspruch mehr: sie sind antidemokratisch, nationalistisch, migrationsfeindlich, gewaltaffin

Antifaschismus könnte kontraproduktiv sein

Die Interviewten sind voller Zynismus, konventionelle politische Aufklärung und Antifaschismus könnte sogar kontraproduktiv sein und als paternalistisch wahrgenommen. Sie fordern hingegen positive Visionen, denn Demokratie den Horizont einer offenen Zukunft, um handeln, gestalten, Lösungen finden zu können.“

Dienstag, 21. Oktober 2025

Sterben soziale Medien?

Die ZEIT beschreibt das nachlassende Interesse an sozialen Medien. Stirbt Social Media? In meinen Seminaren zur Gesellschaft biete ich ein u.a. ein Seminar zu sozialen Medien. 

Mehr Zeit am Smartphone – aber weniger Anteil für sozialen Medien 

Menschen in Deutschland verbringen immer mehr Zeit am Smartphone – sie hat sich auf täglich zwei Stunden verdoppelt, kaum gestiegen ist jedoch die tägliche Social-Media-Nutzung. Dies zeigt sich besonders bei den 16 bis 24jährigen, deren Nutzungsdauer bei sozialen Medien kaum mehr steigt. Ältere Menschen sind hingegen - auf deutlich niedrigerem Niveau - mehr auf sozialen Medien unterwegs. 

Haben soziale Medien ihren Zenit überschritten?

Viele Menschen haben auf Facebook, Instagram und Co. nicht mehr so viel Spaß. Der Wunsch seine Meinung zu teilen und neue Kontakte knüpfen sind gesunken, die Menschen suchen Inspiration oder folgen Promis und Influencern. Soziale Meiden werden immer weniger für das verwendet, was ihnen einst den Namen gab: für den sozialen Aspekt. Diese Kontakte verlagern sich auf die Messangerdienste, so nutzen über 80 % WhatsApp. 

Können Plattformen sich nur noch gegenseitig die Nutzer wegnehmen 

Die Autoren verweist auf die die Obergrenze der Mediennutzungsdauer: Wer zur Schule geht, einen Job oder Kind oder Angehörige betreut kann nicht endlos durch soziale Meiden swipen. Viele Nutzer sagen, dass sie die Zeit eher reduzieren wollen. Die Plattformen brauchen Wachstum für ihren Erfolg – und können nur durch hippere Angebote die Aufmerksamkeit an sich reißen. 

Haben die Formen ihre Dienste „verschlimmscheißert“

Die Autoren schließt mit der These des Internetkritikers Cory Doctorow. Er sagt die Techfirmen hätten ihre Dienste „verschlimscheißert“ – im Zuge des Geldverdienens haben sie jene vergessen, für die sie ihre Produkte einst gebaut haben – die Nutzerinnen und Nutzer. Es könnte sein, dass denen das langsam auffällt. 

Freitag, 17. Oktober 2025

Kulturkämpfe aufgeben und praktischen Fragen nachgehen

Detlef Esslinger fordert in der Süddeutschen Zeitung, dass die Politik Kulturkämpfe aufgeben und sich lieber simplen und praktischen Fragen kümmern soll. 
Ob es um Zuwanderung geht oder Rente, um Israel oder Putin: Viel zu oft leistet sich das Land ein Moralspektakel. Wer zur Einheit beitragen will, gibt die Kulturkämpfe auf und geht lieber den simplen und praktischen Fragen nach. 

In meinen Seminaren zur Gesellschaft biete ich ein u.a. ein Seminar zum Kulturkampf. 

Soziale Medien ermöglichen Kulturkämpfe

Noch sind in Deutschland Menschen in der Lage, miteinander ein Gespräch zu führen. Der Diskurs ist nicht durch konkrete Probleme bedroht, sondern durch einen Kulturkampf, den Populisten und andere Glücksritter erfolgreich angezettelt haben.
Dank der sozialen Medien kann man schnell den Unmut loswerden. Früher musste man Briefe schreiben, also „technisch viel zu aufwändig. Dennoch hält der Autor Raufbolde wie Franz Josef Strauß und Herbert Wehner, die oft nostalgisch verklärt werden, für entbehrlich. 

Kulturkämpfer wollen ein Moralspektakel

Der Philosoph Philipp Hübl nennt die Akteure „Polarisierungsunternehmer“. Kulturkämpfer drehen eine Heizungs- in eine Bevormundungs- und Enteignungsdebatte. Sie sortieren jeden, der sich zu Russland äußert, entweder in die Kategorie Kriegstreiber oder Putinversteher. Die Post bieten keine Argumente, sondern rufen zur Stammesbildung auf. Sie wollen, den Eindruck zu erwecken, die Gesellschaft sei gespalten, „obwohl das überhaupt nicht den Tatsachen entspricht“. 

Dauerempörung über Pseudo-Grundsatzfragen 

Die Dauerempörung führt dazu, dass sich ausgerechnet die Vernünftigen aus der öffentlichen Debatte zurückziehen. Kulturkämpfer wollen die Probleme nicht lösen, sondern bewirtschaften. Der Verzicht auf Argumente ist für sie kein Mangel, sondern Konzept. Die Debatten sind oft Pseudo-Grundsatzfragen wie die Frage über Stra0ennahmen. 

Innerdeutsche Entspannungspolitik 

Der Autor fordert eine innerdeutsche Entspannungspolitik und Debatten über praktische Fragen: Wie viele und welche Zuwanderer werden gebraucht, wenn die Hubers und Maiers nicht mehr reichen, um S-Bahn-Strecken zu bauen und Alte zu pflegen? Wir sollten auf Moralspektakel verzichten: 
Eine pragmatische Gesellschaft ist immer auch eine gelassene Gesellschaft.

Freitag, 19. September 2025

Nils Kumkar über Polarisierung: Wir müssen Konflikte austragen

Nils Kumkar hat ein Buch über Polarisierung. In einem Interview und einer Rezension berichtet. Polarisierung ist auch ein wichtiges Thema bei meinen Seminaren zu gesellschaftlichen Themen. 

"Wir sollten uns trauen zu polarisieren. Sonst tun es die anderen"

In einem Interview im SPIEGEL bezweifelt der Soziologe Nils C. Kumkar, dass die ideologischen Gräben in Deutschland immer tiefer werden – und fordert, Konflikte auszutragen. 

Es gibt keine grundsätzliche Polarisierung 

Das Konzept der Polarisierung wird herangezogen, um Probleme zu erklären. Kumkar bestreitet dies, da sich die Menschen in vielen Punkten weitgehend einig sind, z. B. zu unterschiedliche Lebensformen oder die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch. Auch beim Streitthemen, gibt es nicht zwei Großgruppen, bei denen eine offene Grenzen überall und die andere Einwanderung komplett ablehnt. 

Affektive Polarisierung nimmt zu, wird aber überschätzt 

Affektive Polarisierung bedeutet, dass sich die politischen Lager immer stärker ablehnen. Diese nimmt zu, aber auch diese wird überschätzt. Dies hatte auch schon Steffen Mau in ihrem Buch Triggerpunkte beschrieben: Es ist eine gefühlte Polarisierung, aber keine reale. 
Diese Arbeiten haben auch gezeigt, dass Andreas Reckwitz mit seiner Analyse „Die Gesellschaft der Singularitäten“ nicht richtig ist: Die Gesellschaft zerfällt nicht in die Grünen-wählenden Latte-Schlürfer in Berlin oder Hamburg und die AfD-wählenden Wutbürger in Cottbus oder Görlitz.

Kommunikative Polarisierung 

In seinen Forschungen hat Kumkar herausgefunden, dass es bei den Menschen nicht so sehr um Politik, sondern um Kommunikation geht. Sie beklagen, dass man früher trotz unterschiedlicher Meinung miteinander reden konnte und die nicht mehr so ist. Er nennt dies kommunikative Polarisierung. Ein Konflikt zwischen Extremmeinungen wird oft nur unterstellt.
Als Beispiel nennt er den Beschluss der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, die entschieden hatte, am Christopher Street Day keine Regenbogenflagge zu hissen. Sie positioniert sich zwischen zwei Lagern, die sich gar nicht zu Wort gemeldet habe. 
Eine kommunikative Polarisierung hält er für unvermeidlich, denn moderne Politik operiert über Konflikt. Auch Medien prämieren Konflikt – mit Aufmerksamkeit, in Talkshows oder Leitartikeln. Es knallt dauernd, weil das auch unterhaltsam ist.

AfD als Fundamentalopposition 

Die AfD hat es geschafft, sich als Fundamentalopposition zu präsentieren. Die anderen Parteien machen dabei mit – so der Ministerpräsident von Brandenburg Dietmar Woidke, der mit der Parole „Wir gegen die“ die Wahlen gewonnen hat. Diese Polarisierung hat die Wahlbeteiligung erhöht. 
Die Ergebnisse der Bundestagswahl bei jungen Menschen zeigen, dass diese weniger Skrupel haben, extreme Parteien zu wählen. 

Soziale Medien als wichtiger Faktor 

Es gibt Selbstbestätigungszirkel, in denen sich Menschen nur mit Meinungen umgeben, die ihr eigenen widersprechen. Viele nutzen aber Meiden auch, um sich über Unterschiede zu informieren. 
Meinungen richten sich an vermeintlichen Extremen aus, viele sehen sich selbst in der Mitte und halten die anderen für Extremisten.
Die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf hat gezeigt, wie über soziale Medien eine Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht verhindert werden kann. Er betont aber, dass nicht nur die AfD auf Polarisierung setzt, die Linke setzt auf Konflikt: Verbraucher gegen Konzerne, Mieter gegen Vermieter. 

Gegensätze offenlegen und Konflikte suchen 

Kumkar fordert, dass Politik und Gesellschaft keine Scheu haben sollten, Gegensätze offenzulegen und Konflikte zu suchen – auch wenn sie polarisieren. Neben Migration fordert er auch Diskussionen über Klimapolitik, sozialer Ungleichheit, Wohnungspolitik? Da gibt es Interessenkonflikte, und die gilt es auszutragen. Seine Schlussfolgerung: Wir sollten uns trauen zu polarisieren: Die Demokratie hält nicht, weil alle sie und einander gut finden. Die Demokratie hält, weil und wenn sie sich darin bewährt, mit Uneinigkeit umzugehen.

Wem nützt Polarisierung?

Peter Laudenbach stellt in der Süddeutschen Zeitung das Buch von Nils Kumkar vor.

Polarisierung als Aufmerksamkeitsverstärker 

Kumkar untersucht nicht die Streitthemen, sondern die Wahrnehmung: Wovon reden wir, wenn wir von Polarisierung reden? Die Pole von Debatten stellen ein Magnetfeld dar, das die gesamte Debatte strukturiert. Dabei stehen die meisten Menschen in der Mitte. Treiber dieser Dramaturgie sind die Funktionsweisen sozialer Medien. Die Polarisierung sind Aufmerksamkeitsverstärker, Interpretationsschema oder Mittel zur Komplexitätsreduktion: Richtet sich die Debatte an zwei entgegengesetzten Polen aus, ist sie gleich viel übersichtlicher.

Konflikte sind der Normalfall 

Konflikte sind für Kumkar ein Kennzeichen liberaler Demokratie und nicht unbedingt ein Krisensymptom – sondern der Normalfall. Polarisierung ist kein Grund zur Panik, sondern hochfunktional und unvermeidlich. Politische Wirkung entwickelt, wer die Streitthemen setzt – und seien es alberne Petitessen wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache im amtlichen Schriftverkehr.

AfD nutzt Themen zur Polarisierung 

Für die AfD läuft alles nach Plan und nutzt die Konflikteskalation als Selbstzeck: Wir gegen alle anderen. Deshalb wirken die Forderungen nach „inhaltlich stellen“ ins Leere. Die AfD wird jedes Reiz- und Triggerthemen durch ein weiteres ersetzen. Auch wenn kein einziger Migrant mehr nach Deutschland kommen sollte, wird sich das Polarisierungsunternehmen AfD nicht auflösen, sondern die Leerstelle mit anderen Feindbildern besetzen. Die AfD wendet sich gegen die Spielregeln, gegen die Politik und das System. Sie beteiligen sich an der Debatte um den Debattenraum zu zerstören. 


Freitag, 15. August 2025

Weniger Migrantenkinder - bessere Bildung?

Martin Spiewak analysiert in der ZEIT die Forderung der neuen Bildungsministerin Karin Prien nach einer Obergrenze für Schüler mit Migrationshintergrund. Er fordert stattdessen gezielte Maßnahmen, um Schulen gezielt zu unterstützen. 

Heftige Diskussionen nach Priens umstrittenem Vorschlag 

Bundesbildungsministerin Karin Rien hat in Interviews über eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund nachgedacht. Wie sie selber sagte, steht diese Begrenzung weder im Koalitionsvertrag, noch ist sie zuständig. Auch der Begriff „Quote“ ist fragwürdig, denn es soll ja nicht wie z.B. bei der Frauenquote ein bestimmtes Ziel erreicht werden, sondern begrenzt werden. Dennoch entwickelte sich eine heftige Diskussion: Sorgen Kinder mit Migrationshintergrund für sinkende Lernniveaus. Profitieren sie vielleicht sogar von diesen Ideen? 

Der Autor stellt Erkenntnisse aus der Wissenschaft vor: 

1. Sind Einwandererkinder für die schlechten Leistungen verantwortlich?

Tatsächlich zeigen Schulvergleiche, dass Schüler mit Einwanderungsgeschichte schlechtere Leistungen erbringen, in Deutschland fallen diese Unterschiede sogar besonders groß aus. Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass die widrigen Umstände viel entscheidender sind. Studien zeigen, dass Kinder aus armen und bildungsfernen Familien schlechtere Leistungen zeigen, egal ob sie eingewandert sind oder nicht – ein "Hartz-IV-Deckel" wird jedoch bislang nicht gefordert.

2. Gibt es einen Anteil an zugewanderten Schülern, ab dem das Lernen nicht mehr funktioniert?

Studien zeigen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Lernerfolgen und dem Anteil an Migranten gibt: Ein Schüler hat in einer Klasse mit 15 Prozent Anteil Zugewanderter größere Chancen, Fortschritte zu machen, als in einer mit 30 Prozent. Allerdings gibt es keinen Kipppunkt, ab dem negative Effekt besonders ausgeprägt sind. 

3. Ist Dänemark ein Vorbild? Oder die USA?

Dänemark wird als Vorbild genannt, allerdings gibt es dort keine Obergrenzen für Schulklassen. Stattdessen will man Stadtteile mit vielen Migranten aus „nicht-westlichen“ Herkunftsstaaten per Dekret verändern. Die Kinder dieser Viertel müssen verpflichtend eine Kita besuchen und Sprachtests absolvieren.
Das bekannteste Beispiel war die USA, die die Rassentrennung durch „Busing“ verändern wollte. Schüler aus armen schwarzen Vierteln wurden mit wohlhabenden weißen Vierteln gemischt. Auch die frühere Vizepräsidentin Kamala Haris hat davon nach eigenen Angaben davon profitiert. Es gab heftigen Widerstand und Ausschreitungen, zum Teil flohen weiße Eltern aus den Schulbezirken. Studien zeigen, dass sich in den gemischten Klassen die Leistungen der schwarzen Schüler verbesserten, ohne dass die weißen Schüler weniger lernten.

4. Ließe sich ein "Migrantendeckel" in Deutschland umsetzen?

In West-Berlin wurden solche Maßnahmen erprobt, allerdings scheiterte das Proberamm, weil Fahrkosten nicht übernommen wurden, vor allem aber, weil ein umgekehrter Transfer von Schülern ohne Migrationshintergrund auf große politische Widerstände stieß. Der Autor vermutet, dass auch heute die überwiegend nichtmigrantischen Akademikereltern ein Hindernis für die Durchsetzung der Obergrenze. „Sie mögen sich für weltoffen halten, sind aber die wahren Treiber der Segregation“. 
Als in Nordrhein-Westfalen die Pflicht aufgehoben wurde, sein Kind auf eine Schule im Umkreis zu schicken, mied die bildungsbewusste deutsche Mittelschicht fortan die Schulen vor der eigenen Haustür, sofern dort Kinder aus armen und bildungsfernen Familien lernten. Auch in sozial durchmischten Stadtvierteln sind die Schulen segregiert, verantwortlich dafür sind die Eltern."
Eine Obergrenze bei 30 oder 40 Prozent ist zudem schon aus demografischen Gründen unrealistisch: Der Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte unter den 0- bis 15-Jährigen lag in Deutschland im vergangenen Jahr bereits bei 42,5 Prozent. Man müsste Kinder aus Bremen also nach Bautzen schicken. 

5. Was könnte helfen?

Solange es segregierte Stadtteile gibt, wird es segregierte Schulen geben. Deshalb müssten Schüler, die es herkunftsbedingt schwerer haben, stärker unterstützen: mehr Lehrkräfte, Nachhilfe, gezielte Arbeit in den Familien. Hamburg macht es vor: sogenannte Brennpunktschulen werden direkt gefördert. Ein ähnliches Programm soll für die Kitas kommen. In der frühen Bildung sehen so gut wie alle Experten das größte Potenzial. Bisher funktionieren die Maßnahmen. Selbst nach mehreren Jahren in der Kita haben viele Einwandererkinder nicht genug Deutsch gelernt, um bei der Einschulung dem Unterricht gut folgen zu können.
Der Autor fordert: „Eine gezielte Privilegierung von unterprivilegierten Schulen und Kitas – mehr Fachkräfte, attraktivere Gebäude, bessere Förderprogramme – könnte sogar für alle Eltern interessant sein. Und am Ende die Debatte über Deckel, Obergrenzen oder Quoten überflüssig machen.“

Sonntag, 10. August 2025

Unsere Gesellschaft ist verrohter als viele denken

In einem Beitrag für den SPIEGEL kritisiert der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, dass Gewalt und Rücksichtslosigkeit kleineredet werden: Diese Selbsttäuschung muss aufhören, sonst wird sich das Problem noch verschärfen

Unsere Gesellschaft verroht 

Umfragen zeigen, dass viele Menschen eine Verrohung der Gesellschaft spüren, sie beklagen mehr Egoismus und eine gesteigerte Aggressivität. Einige führen die ansteigende Zahl von Straftaten auf eine erhöhte Anzeigenbereitschaft und mehr Polizeiarbeit zurück. Diese Sensibilisierungsthese soll beruhigend wirken: So schlimm ist es gar nicht. Heitmeyer widerspricht dieser These und verweist auf die zahlreichen Befunde im gesellschaftlichen Alltag. 

Durchrohung mi unterschiedlichen Gewaltformen 

Für ihn ist Durchrohungsthese zutreffender. Der Begriff der Durchrohung beschreibt, wie private, öffentliche oder institutionelle Strukturen Menschen dazu stimulieren, Macht zerstörerisch einzusetzen. Die Gewaltformen reichen von Demütigung über Hass zu Gewalt. Diese Gewalt gibt es im privaten und öffentlichen Raum: gegen Polizei und Rettungskräfte, im Straßenverkehr, Schulen, in ökonomischen Räumen gegen Beschäftige, in der Politik und nicht zuletzt in den virtuellen Räumen des Internets. Er stützt sich dabei auf „unbeleuchtete Dunkelzonen“, d.h. Umfragen bei Ärzten, Mitarbeitern öffentlicher Einrichtungen, die über zunehmende Angriffe klagen. 

Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Verhalten 

Die These von der Durchrohung sieht einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Verhalten.
Die zentrale gesellschaftliche Struktur ist das Wirtschaftssystem. Der Kapitalismus muss sich um des eigenen Überlebens willen immer weiter ausbreiten und betrifft zunehmend auch den sozialen Bereich. Dadurch werden Menschen bewertet, wie nützlich, verwertbar und effizient sie sind. Der deregulierte Turbokapitalismus hat zu massiven sozialen Ungleichheiten geführt: 
Die Gesellschaft fällt dadurch zunehmend auseinander, viele Menschen fühlen sich verletzt und vermissen gesellschaftliche Anerkennung. Untersuchen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gewalttaten. 

Soziale Individualisierung und kulturelle Singularisierung 

Der Soziologe Ulrich Beck hat die Individualisierungsprozess der Moderne bestimmt. Nicht mehr Herkunft und Klassenzugehörigkeit, sondern das individuelle Handeln ist prägend. Sie sind gezwungen, ihren Lebensplan durchzusetzen. Je individueller die Lebensplanung wird, desto mehr widersprüchliche und unklare Anforderungen werden an den Menschen gestellt. 
Der Soziologe Andreas Reckwitz betont die Logik des Besonderen, das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Diese Kriterien ändern sich ständig. Der zentrale Modus dieser kulturellen Singularisierung ist die Demonstration von Überlegenheit in der Alltagskommunikation.

Subjektivierung von Werten und Erosion von Normen

Beide Prozesse haben weitrechende Folgen. Sie betreffen die Subjektivierung von Werten (»Was als Wert gilt, bestimme ich«) und die Erosion von Normen (»Woran ich mich halte, bestimme ich«). Reckwitz verweist zudem auf die Relevanz von Affekten. Diese negativen Emotionen führen zur Verbreitung von Hass und Gewalt. Das inzwischen von autoritären Bewegungen und Parteien propagierte Ideal harter Männlichkeit verschärft die Problematik.
Wir erleben eine Abfolge von Krisen, in denen politische Instrumente nicht mehr funktionieren und viele Menschen dadurch Kontrollverluste erfahren. Das verringert das Gefühl, das eigene Leben selbstwirksam gestalten zu können und der Erwartung nach Einzigartigkeit zu entsprechen.

Debatte über Durchrohung ist notwendig 

Heitmeyer betont, dass die beschriebenen Strukturen, der Verlust von Empathie und die schwindende Bindung von Rechtsnormen zu dieser Verrohung führen. Beunruhigend ist, dass dies im Interesse von Akteuren mit Macht und Einfluss ist, die uns weiterhin etwas vorlügen können. Dazu gehören Wirtschaftsführer, die vom Kapitalismus profitieren, Politiker, die diese ökonomischen Strukturen nicht thematisieren und Meiden, die nicht auf diese Zusammenhänge hinweisen. Er fordert deshalb eine „produktiv radikale Debatte über die gesellschaftliche Produktion der Durchrohung“, ansonsten werden die Probleme weiter zunehmen – und das Bemühen, sie zu verdrängen.

Montag, 4. August 2025

Die junge Generation ist sensibel und klug

In einem Interview im SPIEGEL betont der Jugendforscher Klaus Hurrelmann: „Ich halte die junge Generation nicht für faul, sondern für sensibel und klug“. 

Junge Menschen werden in einer krisengeschüttelten Welt groß 

Studien zeigen, dass sich junge Menschen stark belastet fühlen – nicht erst seit der Coronapandemie. Der Anteil derjenigen, die therapeutische Hilfe benötigen, hat sich auf 20 % erhöht. Zwar mussten auch frühere Generationen mit Herausforderungen umgehen, wie z.B. durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Heute sehen sich jüngere Menschen aber vielen Krisen gegenüber. 
Durch digitale Kanäle wird jedes Ereignis verstärkt, dramatisiert und multipliziert. Fast ein Drittel der jungen Menschen haben keine Kontrolle über ihren Social-Media-Konsum. 

Sorgen um Krieg in Europa und Inflation 

Die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ zeigt, dass mittlerweile der Krieg in Europa und die Inflation die größten Sorgen von Jugendlichen sind – nicht mehr der Klimawandel wie bei der letzten Studie vor fünf Jahren. Viele haben Angst, dass ihre Arbeit in zehn Jahren noch sicher ist und sie sich das Leben leisten können. Die steigenden Preise verstärken diesen Effekt. Daran ändert auch der Fachkräftemangel nichts, denn die Jungen werden viel Verantwortung stemmen müssen. 

Klimawandel kein großes Thema mehr 

Für Hurrelmann war die Coronapandemie entscheidend, dass der Klimawandel keine große Rolle mehr spielt, denn die beiden Hebel von Fridays for Future – Schulschwänzen und Demonstrieren – wurden hinfällig. Er bedauert dies, denn er sah die Chance auf gesellschaftliche Veränderungen. Zahlenmäßig waren mehr Menschen beteiligt als bei der 68er Generation. 

Kinder zu sehr in Watte gepackt 

Die Kinder der 68er haben laut Hurrelmann ihre Kinder zu sehr in Watte gepackt. Studien zeigen, dass die Hälfte der Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder oft überfordert ist und ein Drittel sogar erschöpft und am Rande ihrer Möglichkeiten. Viele Eltern hinken den technischen Möglichkeiten ihrer Kinder hinterher und haben ihren eigenen Medienkonsum nicht im Griff. Folglich hält er auch für Verbote von sozialen Medien für kontraproduktiv. Besser wäre es, die Konzerne zu regulieren.

Generationen müssen im Dialog bleiben 

Er beklagt, dass ältere und jüngere Menschen immer weniger Bezugspunkte haben. Dabei wäre ein Dialog und die Akzeptanz wichtig, damit jeder seine Stärken einbringen kann. In Parteien, Vereinen und Kirchen ist das Durchschnittsalter hoch, junge Menschen diskutieren auf ihren digitalen Plattformen. Eine Wehrpflicht oder ein soziales Pflichtjahr befürwortet er nur, wenn alle in die Pflicht geworden, z.B. durch einen Pflichtdienst für Senioren. 

Die junge Generation verhält sich solidarisch

Hurrelmann betont, dass sich die junge Generation bereits solidarisch verhält. Während der Coronapandemie wurden sie als Letzte geimpft und schulen waren lange geschlossen. Sie tragen das Rentensystem und müssen immense Schuldenberge abbauen: Die Jungen leisten viel – auch wenn die Alten gern auf sie schimpfen.  Er fordert einen flexibleren Renteneintritt. Warum sollen Menschen mit 65 plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen sein? Er selbst hat nun mit 81 Jahren ein Buch über die Jugend geschrieben und versucht den Kontakt zu jüngeren Menschen zu halten. 

Junge Menschen haben ein gutes Gespür 

Hurrelmann bestreitet, dass jungen Menschen nicht mehr leistungsbereit sind. Sie blicken auf die gestressten Eltern, die dem Beruf alles untergeordnet haben, oft auch die eigene Gesundheit. Daher hält es für verständlich, dass sie andere Schwerpunkte setzen. Er lobt die Klimabewegung, die viel bewegt hat und kritisiert den Rechtsruck, auch wenn er die Ursachen herleiten kann. 
An seiner eigenen Generation kritisiert er, dass sie die Lebensleistung der Nachkriegsgeneration nicht ausreichend anerkannt hat, da diese unter katastrophalen Bedingungen ihren Alltag gemeistert haben.