Nils Kumkar hat ein Buch über Polarisierung. In einem Interview und einer Rezension berichtet. Polarisierung ist auch ein wichtiges Thema bei meinen Seminaren zu gesellschaftlichen Themen.
"Wir sollten uns trauen zu polarisieren. Sonst tun es die anderen"
In einem Interview im SPIEGEL bezweifelt der Soziologe Nils C. Kumkar, dass die ideologischen Gräben in Deutschland immer tiefer werden – und fordert, Konflikte auszutragen.
Es gibt keine grundsätzliche Polarisierung
Das Konzept der Polarisierung wird herangezogen, um Probleme zu erklären. Kumkar bestreitet dies, da sich die Menschen in vielen Punkten weitgehend einig sind, z. B. zu unterschiedliche Lebensformen oder die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch. Auch beim Streitthemen, gibt es nicht zwei Großgruppen, bei denen eine offene Grenzen überall und die andere Einwanderung komplett ablehnt.
Affektive Polarisierung nimmt zu, wird aber überschätzt
Affektive Polarisierung bedeutet, dass sich die politische Lager immer stärker ablehnen. Diese nimmt zu, aber auch diese wird überschätzt. Dies hatte auch schon Steffen Mau in ihrem Buch Triggerpunkte beschrieben: Es ibt eine gefühlte Polarisierung, aber keine reale
Diese Arbeiten haben auch gezeigt, dass Andreas Reckwitz mit seiner Analyse „Die Gesellschaft der Singularitäten“ nicht richtig ist: Die Gesellschaft zerfällt nicht in die Grünen-wählenden Latte-Schlürfer in Berlin oder Hamburg und die AfD-wählenden Wutbürger in Cottbus oder Görlitz.
Kommunikative Polarisierung
In seinen Forschungen hat Kumkar herausgefunden, dass es bei den Menschen nicht so sehr um Politik, sondern um Kommunikation geht. Sie beklagen, dass man früher trotz unterschiedlicher Meinung miteinander reden konnte und die nicht mehr so ist. Er nennt dies Kommunikative Polarisierung. Ein Konflikt zwischen Extremmeinungen wird oft nur unterstellt.
Als Beispiel nennt er den Beschluss der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. Sie positioniert sich zwischen zwei Lagern, die sich gar nicht zu Wort gemeldet habe.
Eine kommunikative Polarisierung hält er für unvermeidlich, denn moderne Politik operiert über Konflikt. . Auch Medien prämieren Konflikt – mit Aufmerksamkeit, in Talkshows oder Leitartikeln. Es knallt dauernd, weil das auch unterhaltsam ist.
AfD als Fundamentalopposition
Die AfD hat es geschafft, sich als Fundamentalopposition zu präsentieren. Die anderen Parteien machen dabei mit – so der Ministerpräsident von Brandenburg Dietmar Woidke, der mit der Parole „Wir gegen die“ die Wahlen gewonnen hat. Diese Polarisierung hat die Wahlbeteiligung erhöht.
Die Ergebnisse der Bundestagswahl bei jungen Menschen zeigen, dass diese weniger Skrupel haben, extreme Parteien zu wählen.
Soziale Medien als wichtiger Faktor
Es gibt Selbstbestätigungszirkel, in denen sich Menschen nur mit Meinungen umgeben, die ihr eigenen widersprechen. Viele nutzen aber Meiden auch, um sich über Unterschiede zu informieren.
Meinungen richten sich an vermeintlichen Extremen aus, viele sehen sich selbst in der Mitte und halten die anderen für Extremisten.
Die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf hat gezeigt, wie über soziale Medien eine Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht verhindert werden kann. Er betont aber, dass nicht nur die AfD auf Polarisierung setzt, die Linke setzt auf Konflikt: Verbraucher gegen Konzerne, Mieter gegen Vermieter.
Gegensätze offenlegen und Konflikte suchen
Kumkar fordert, dass d Politik und Gesellschaft keine Scheu haben sollte, Gegensätze offenzulegen und Konflikte zu suchen – auch wenn sie polarisieren. Neben Migration fodert er auch Diskussionen über Klimapolitik, sozialer Ungleichheit, Wohnungspolitik? Da gibt es Interessenkonflikte, und die gilt es auszutragen.
Seine Schlussfolgerung: Wir sollten uns trauen zu polarisieren: Die Demokratie hält nicht, weil alle sie und einander gut finden. Die Demokratie hält, weil und wenn sie sich darin bewährt, mit Uneinigkeit umzugehen.
Wem nützt Polarisierung?
Peter Laudenbach stellt in der Süddeutschen Zeitung das Buch von Nils Kumkar vor.
Polarisierung als Aufmerksamkeitsverstärker
Kumkar untersucht nicht die Streitthemen, sondern die Wahrnehmung: Wovon reden wir, wenn wir von Polarisierung reden? Die Pole von Debatten stellten eine Magnetfeld dar, der die gesamte Debatte strukturiert. Dabei stehen die meisten Menschen in der Mitte. Treiber dieser Dramaturgie sind die Funktionsweisen sozialer Medien. Die Polarisierung sind Aufmerksamkeitsverstärker, Interpretationsschema oder Mittel zur Komplexitätsreduktion: Richtet sich die Debatte an zwei entgegengesetzten Polen aus, ist sie gleich viel übersichtlicher.
Konflikte sind der Normalfall
Konflikte sind für Kumkar ein Kennzeichen liberaler Demokratie und nicht unbedingt ein Krisensymptom – sondern der Normalfall. Polarisierung ist kein Grund zur Panik, sondern hochfunktional und unvermeidlich. Politische Wirkung entwickelt, wer die Streitthemen setzt – und seien es alberne Petitessen wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache im amtlichen Schriftverkehr.
AfD nutzt Themen zur Polarisierung
Für die AfD läuft alles nach Plan und nutzt die Konflikteskalation als Selbstzeck: Wir gegen alle anderen. Deshalb wirken die Forderungen nach „inhaltlich stellen“ ins Leere. Die AfD wird jedes Reiz- und Triggerthemen durch ein weiteres ersetzen. Auch wenn kein einziger Migrant mehr nach Deutschland kommen sollte, wird sich das Polarisierungsunternehmen AfD nicht auflösen, sondern die Leerstelle mit anderen Feindbildern besetzen. Die AfD wendet sich gegen die Spielregeln, gegen die Politik und das System. Sie beteiligen sich an der Debatte um den Debattenraum zu zerstören.