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Mittwoch, 13. Dezember 2023

Bildung: Fünf Gründe, warum deutsche Schulen heute nicht besser abschneiden

Die PISA-Studie war – mal wieder - ein Schock. Die Schüler*innen sind bei der aktuellen Bildungsstudie weiter abgestürzt. In der ZEIT nennt Martin Spiewak fünf Gründe, warum deutsche Schulen so schlecht abschneiden. Er betont aber auch, dass es positive Veränderungen gab.

Es hat sich einiges getan

Seit dem PISA-Schock 2000 hat sich einiges verbessert: Die Zahl der Grundschüler an Ganztagesschulen hat sich verzehnfacht, über 100.000 neue Erzieherinnen wurden eingestellt.
Es gibt Sprachtests vor der Einschulung, bundesweite Bildungsstandards und Leseprogramme. Die Bildungsausgaben haben sich inflationsbereinigt verdoppelt, die Klassen sind kleiner geworden.

Es reicht nicht aus

Es gibt verschiedene Gründe, warum das nicht gereicht hat: die Schülerschaft hat sich ebenso verändert wie die Welt jenseits des Klassenraums „von digitalen Medien über veränderte Familienstrukturen bis zum Arbeitsmarkt, der gering qualifiziertes Personal kaum noch braucht.“ Gleichzeitig sind die Anforderungen immer größer geworden – sie gelten als „Generalreparaturbetrieb“ für viele Missstände.

Die Schulen haben sich nicht gewandelt wie die Gesellschaft

Die Autoren nennen fünf Gründe, warum sich Schulen nicht in der gleichen Geschwindigkeit verändert haben.

1. Gaaanz laaaangsam

Bis zu 200.000 lese- und rechenschwache Schülerinnen und Schüler verlassen pro Jahr die Schule. Es dauerte aber 20 Jahre bis sich die Kultusminister auf eine Leseinitiative geeinigt haben. Auch ein lange erprobtes Mathekonzept soll erst 2024 starten. Weltweit haben die Schließungen durch das Coronavirus zu einem Kompetenzeinbruch geführt. Deutschland war aber besonders schlecht auf Onlineunterricht vorbreitet, bis heute fehlen WLAN und Tablets.

2. Basteln statt Lernen

Die deutschen Kitas verstehen sich immer noch nicht als Bildungshäuser. Gerade für Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, wäre frühkindliche Bildung enorm wichtig. Zusätzliches Geld für die frühkindliche Bildung wurde zudem nicht in erster Linie in die Qualität der Kitas investiert. Stattdessen wurden Milliarden für mehr Plätze und sinkende Beiträge ausgegeben. Das half dem Geldbeutel von Mittelstandseltern, aber nicht der Chancengleichheit. Auch beim Ausbau von Ganztagesschulen gibt es nachmittags vor allem Bastel-Gruppen und Fußball-AGs, dadurch werden weder Bildungsungerechtigkeiten abgebaut noch zu Lernzuwächsen geführt.

3. Vorsicht vor den Bildungsbürgern

Experten fordern seit langem, Brennpunktschulen gezielt zu fördern: mit mehr Lehrkräften, kleineren Klassen, Schulpsychologen und Sozialarbeitern. Der Mut an anderen Stellen zu sparen, z.B. bei den Gymnasien, fehlt jedoch – die Politik möchte keine Diskussionen mit Bildungsbürgern. Der Lehrermangel verschärft neuerdings die Ungleichheiten, da an Brennpunktschulen mehr Unterricht ausfällt und mehr Quereinsteiger beteiligt sind.

4. Routine, Routine, Routine

Erneut haben asiatische Länder im internationalen Vergleich überragend abgeschnitten. Diese haben weniger Migranten zu integrieren, dennoch lohnt sich ein Blick auf den Unterricht. Es gibt Unterrichtseinheiten für das ganze Land und gegenseitige Lernkultur. In Deutschland hat sich wenig verändert. Noch heute ist der Matheunterricht auf Rechnen und nicht mathematisches Denken ausgerichtet. Auch bei der Sprachförderung hapert es, eine Grundvoraussetzung für den Lernerfolg.

5. Geld, mehr Geld!

Die Bildungspolitik hat auf Wachstum gesetzt: mehr Kita-Plätze, mehr Zeit in der Schule, mehr Geld. Auf ein Mehr kann man sich schnell einigen. Es reicht aber nicht, einfach mehr Geld auszugeben. Deutschland hat in der Bildung in erster Linie weder ein Erkenntnis- noch ein Finanzproblem. Es mangelt an der Bereitschaft, das Notwendige zu benennen, und am Mut, es umzusetzen.

Mittwoch, 8. November 2023

Die Rettung der Welt hat längst begonnen

Ullrich Fichtner schreibt immer wieder tolle Essays im SPIEGEL. In einem aktuellen Beitrag geht es um Klimakrise, erneuerbare Energien und Artenvielfalt. Seine These „Die Rettung der Welt hat längst begonnen“.
Fichtner wendet sich gegen die verdrießliche, bisweilen hysterische Grundstimmung. Die Zukunft ist offen, mit Disruptionen ist jederzeit zu rechnen. Er will nichts verharmlosen und kritisiert „das bewusstlose Verfeuern und Verbrauchen fossiler Brenn- und Rohstoffe in unvorstellbarem Ausmaß". Der Mensch ist der große Störfaktor in einer eigentlich heilen Welt.

Blick auf das Gelingende

Es braucht bessere, ruhigere Debatten und einen Blickwechsel, ein grundsätzlich verändertes »Framing«. Die Blindheit für alles Gelingende führt zu einem Zerrbild der Welt, das mit der Wirklichkeit nicht viel gemein hat. Politische Projekte und deren Umsetzungen regelmäßig mit »zu wenig, zu spät« abzutun ist völlig apolitisch – und ein schleichendes Gift, an dem die Demokratie an und für sich krank wird. In Forschung und Wissenschaft, in Wirtschaft und Gesellschaft, in der Politik, in der Staatenwelt herrscht vielerorts Aufbruchstimmung

Das epochale Klimaabkommen von Paris

Der Autor bezeichnet das Klimaabkommen von Paris als das größte politische Experiment aller Zeiten. Sie startete einen Umbau, der bereits Erfolge zeigt.
Ein Land wie Kenia bezieht seine Energie schon heute zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Auch andere Länder versuchen eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Überall auf der Welt ist das Thema angekommen, Universitäten richten Lehrstühle ein, Konzerne und die Finanzindustrie steuern um.

Aufbruchstimmung in vielen Bereichen

Der Umbruch verbindet sich mit unerhörten neuen Möglichkeiten einer neuen industriellen Revolution. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen ermöglichen die Lösungen, die mit bisherigen Mitteln unlösbar waren. Auch in Naturwissenschaft und Medizin gibt es Durchbrüche in vielen Bereichen: Energie­-gewinnung und Städtebau, Verkehr und Infrastruktur, Industrieproduktion, Landwirtschaft, Arbeit, Alltag und auch die Kunst – alles ist in Bewegung.

Stürmische, harte und überraschende Tage

Ein heute geborenes Kind wird jedenfalls am Silvesterabend 2099 auf den Beginn des 21. Jahrhunderts so blicken, wie die Kinder des 20. ins 19. Jahrhundert zurückgeschaut haben: fasziniert davon, wie stürmisch und grundlegend sich die Welt geändert hat, wie schnell die Lebenswelten und -weisen der Vorfahren fremd geworden sind.
Die Zukunft ist offen: Es kommen härtere Tage, gewiss, aber es werden auch gänzlich überraschende anbrechen. Die Menschen als „Choreografen der Natur“ haben die Möglichkeit zur Gestaltung: „Wird alles ganz furchtbar? Oder auch wunderbar? Wir werden es erleben.“

Samstag, 14. Oktober 2023

Das Gift, das bleibt: Vom Verfall der politischen Kultur

Hilmar Klute beklagt in der Süddeutschen Zeitung den Verfall der politischen Kultur: Ob im Bierzelt, im Parlament oder in den sozialen Medien: Überall schleicht sich gerade der Hass ein. Und das liegt längst nicht nur an der AfD.

AfD als Verbreiter von Gift

Im Wahlkampf gab es Gerüchte über einen Giftanschlag auf AfD-Sprecher Tina Chrupalla. Dies erwies sich als falsch. Umso mehr Gift ist in den Reden der AfD: Es ist das Gift der Lüge, der vorsätzlichen Falschinformation und der Diffamierung. Das Gift der Verächtlichmachung und der Verhöhnung demokratischer Ordnung. Es ist ein Gift, das sich als wirksamer gezeigt hat, als mancher es vor Kurzem noch glauben mochte. Sie sorgen für eine Zuspitzung der Begriffe von den „Systemparteien“ oder die angebliche „Umvolkung“ durch die Migration.

Die Lust an der Eskalation befeuert auch das autoritäre Denken

Diskussionen werden zunehmend über soziale Medien wie Twitter geführt. Hier gilt „Affekt statt komplizierter Gedanken“: Man kann Zitate aus Zusammenhängen herauskoppeln, vermeintlich verräterische Aussagen rot einkreisen und Aussagen anderer diskreditieren. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht „durch das Einbringen autoritärer Elemente zu einem aggressiven, vergifteten Klima in der politischen Öffentlichkeit beitragen“.

Aus Gegnern werden Feinde, die zum Schweigen gebracht werden sollen

Den Gegner selbst mit den unlautersten Mitteln lächerlich zu machen, ist eine Taktik, mit der sich der Hass in bitteren Humor kleiden und windschnittiger machen lässt. Aber das Gift wirkt und wird weitergeleitet:
Aber nicht durch die AfD geht diesen Weg, sondern auch Publizisten wie Roland Tichy, der mit seiner eigenen Online-Publikation für permanenten Zorn sorgt. Hubert Aiwanger will die Demokratie zurückholen, Friedrich Merz sieht Berlin nicht als Teil von Deutschland: Die politische Sprache leitet das Gift der Verachtung und des Hasses in die Köpfe selbst einstmals christlich-liberal denkender Bürgerinnen und Bürger.

Warnende Worte durch Heinrich Mann

„Treibt man den Hass zu weit, fällt er zurück auf den Hasser und hält ihn besessen an Leib und Seele.“ schrieb Heinrich Mann bereits 1933. Er hoffte auf den Skeptizismus der Menschen, die sich die Tobenden zur Ordnung rufen. „Ein überspannter Hass ist nicht gesund und unwürdig deiner Intelligenz“. Klute ist skeptisch, ob dies heute noch wirken könne: Einen Satz wie diesen würde mancher heute vermutlich als „Gruß aus dem Elfenbeinturm“ seinen Followern hämisch zum Fraß vorwerfen.

Montag, 11. September 2023

Was tun gegen die Bildungsmisere in Deutschland?

Der renommierte Bildungsforscher El Mafaalani schreibt in der Süddeutschen Zeitung über Lehrermangel und die Bildungsmisere
Um Wirtschaft und Sozialstaat aufrechtzuerhalten, müsste das Schulsystem das Potenzial von allen voll ausschöpfen. Die Hauptprobleme sind aus seiner Sicht:

  • Das deutsche Schulsystem kann mit Heterogenität traditionell nicht gut umgehen.
  • Jedes Jahr scheitern 5-10 % im und am System
  • Wir geben zu wenig Geld aus und setzen das Geld nicht richtig ein.


Baustelle 1: Kindheit und Familie im Wandel

Ein großer Teil der Kinder wächst behütet auf, mehr als jedes vierte Kind wächst hingegen in prekären Verhältnissen. Diese brauchen wesentlich mehr Unterstützung. Durch Migration hat sich durch Migration stark verändert, bundesweit haben mehr als 40 Prozent der Kinder einen sogenannten Migrationshintergrund. Auch das Familienleben hat sich verändert: Patchworkfamilien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kindern und alleinerziehenden Elternteilen, aber auch zunehmend erwerbstätige Eltern.
Die Schulen sind auf diese Heterogenität kaum vorbereitet, ebenso wie auf die digitale Welt, in der die jungen Menschen leben. Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, bedeutet heute etwas ganz anderes als im 20. Jahrhundert.

Baustelle 2: Demografischer Wandel

Wir können auf keines der wenigen Kinder verzichten. Es geht deshalb um die Befähigung für eine hochkomplexe Zukunft. In Schulen herrscht häufig Mangelverwaltung, Kinder und Jugendlichen wurden bereits während der Pandemie am stärksten belastet. Es müssen kinder- und jugendgerechte Räume geschaffen werden, in denen für alle alles erlebbar ist, was unsere Gesellschaft Positives zu bieten hat - Sport, Musik, Kunst und Kultur, Botanik, Technik und so weiter.
Kein Kind darf zurückgelassen werden, schon weil sie in den kommenden 15 Jahren zwei sogenannte Babyboomer ersetzen - und dann dauerhaft Wirtschaft und Sozialstaat aufrechterhalten.

Baustelle 3: Finanzierung

Bildungsinstitutionen müssen immer mehr leisten, die Ausgaben steigen nur moderat. Das wenige Geld wird nicht richtig eingesetzt. Ausgerechnet Grundschulen sind unterfinanziert, ein Ort, an dem alle Kinder gemeinsam lernen, Grundlagen wie Lesen, Schreiben und Rechnen gelegt und Benachteiligung bekämpft werden können. Geld wird vor allem für die Besoldung der Lehrkräfte ausgegeben, kaum auf multiprofessionelle Teams. Außerdem sind Schulen überreguliert. Deshalb fragt der Autor:

Wozu Schule?

Eine moderne Gesellschaft leistet sich ein Schulsystem mit Schulpflicht für alle, weil es die funktionalste Möglichkeit ist, die Gesellschaft stabil zu halten. Die letzten großen Reformen bezogen sich auf einen Anspruch auf einen Kita-Platz und einen Ganztagsplatz in der Grundschule. Das Ziel war, dass beide Eltern eine Erwerbsarbeit nachgehen können. Aber die Frauenerwerbsquote steigt nicht wie erhofft, weil Plätze fehlen oder Verlässlichkeit und Qualität für viele Mütter und Väter nicht akzeptabel erscheinen. Ein insgesamt vernachlässigtes System leidet zusätzlich unter Fachkräftemangel und soll sich riesigen Herausforderungen stellen.

Starkes Signal nötig

Wie in anderen Bereichen hält er ein Sondervermögen für notwendig. Allerdings können marode System nicht mal verlässlich Geld ausgeben.  Wenn die Hütte brennt, sind alle zu stark mit kurzfristigem Feuerlöschen beschäftigt und haben kaum Kapazitäten für schnelle konzeptionelle Zukunftsplanungen.
Nötig sind Fortbildungssysteme für Lehrkräfte, verbesserte Arbeitsbedingungen, freie Geldmittel für Schulen, und eine Reduktion der Belastung der Lehrkräfte durch Verwaltungsassistenten.
Bildung müsste Chefsache sein, denn „Was ist wichtiger als das zukünftige Humankapital und die Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Donnerstag, 17. August 2023

Früher war nicht alles besser

Bereits 2020 hatte das ZDF mit einer Sendung unter dem Titel „Früher war alles besser! Oder?  mit einigen Fehleinschätzungen aufgeräumt. Nun ist eine neue Ausgabe unter diesem Titel erschienen und fragt, ob früher alles besser war: Das eigene Haus erschwinglich, Autos hochwertiger, die Mode mutiger – und man durfte noch sagen, was man denkt. Oder?

Früher war nicht alles besser

Auch wenn viele Deutsche es glauben – früher war nicht alles besser. Unseren oft nostalgisch verklärten Erinnerungen stellt die Dokumentation überraschende Fakten gegenüber. Diese Verzerrung der Erinnerung ist eher die Regel als die Ausnahme. Eine Neurowissenschaftlerin Maren Urner beschreibt den Mechanismus der Vergangenheitsverklärung als rationale Gedächtnisleistung unseres Gehirns: "Für ein gelungenes Selbstbildnis baut unser Gehirn eine eher positive Zusammenfassung unserer bisherigen Erfahrungen zusammen. Dagegen schauen wir meist kritischer in die Gegenwart, als es nötig ist – reine Vorsichtsmaßnahme."

Früher durfte man noch sagen, was man denkt?

Der Abschnitt über die (fehlende) Meinungsfreiheit ist die brisanteste These. Laut Umfragen glauben 38 % der Bevölkerung, dass man nicht mehr sagen kann, was man denkt. Diese Aussage ist besorgniserregend genug, früher war aber nicht alles besser: In Zeiten der Nazi- oder DDR-Diktatur konnten abweichende Meinungen im Gefängnis enden und auch im Westen gab es auch Probleme. Wer in den Sechzigern eine eher linke Gesinnung hatte, musste mit Widerständen rechnen, ab 1972 beendete der Radikalenerlass manche Lehrerkarriere.

Haus erschwinglicher, Autos hochwertiger, Mode mutiger?

Auch die anderen Themen der Sendung relativieren gängige Vorurteile. Trotz der aktuell enorm gestiegenen Kosten für das Eigenheim war es früher nicht besser: die Kosten sind zwar erheblich gestiegen, die Einkommen aber auch. Der Umgang mit Geld hat sich verändert, Kredite waren verpönt. Dass Autos für die „Ewigkeit“ konstruiert waren („läuft und läuft und läuft“), stimmte nicht mal für den Käfer; der Rost sorgte unerbittlich dafür, dass die Lebensdauer der Fahrzeuge überschaubar war. Und auch über Mode wurde schon immer geschimpft: Vor 60 Jahren haben die Alten über den Minirock geschimpft: Sie hielten das Kleidungsstück für ein Zeichen von Unzucht.

Vortrag zum Thema

Der Filmbeitrag von 2020 hat mich auf die Idee gebracht, ein Seminar zu diesem Thema anzubieten. Jetzt war es endlich soweit – bei einem Vortrag für den Treffpunkt Mozartstraße konnte ich das Thema vorstellen.
 

Donnerstag, 20. Juli 2023

Gewalt in Freibädern: Nicht abtauchen!

Nicht abtauchen“ fordert Mariam Lau in der ZEIT angesichts der Gewalt in Freibädern. Unterstützung fordert sie aber für alle Bedrohten.

Schwimmbäder als Paradiese der Demokratie

Schwimmbäder können kleine Paradiese der Demokratie sein, denn alle gesellschaftlichen Gruppen kommen zusammen – meistens läuft es ja auch gut. Schlimm hingegen die Randale im Neuköllner Columbiabad. Opfer der Gewalt sind oft Menschen mit Migrationshintergrund, sie leiden auch unter der Schließung.
 

Umstrittene Forderungen nach Schnellverfahren

Lau verteidigt die Forderung des neuen CDU-Generalsekretärs nach schnellen Verfahren: Wer andere brutal im Schwimmbad fertigmacht, dann aber monatelang unbehelligt bleibt, wird wohl kaum begreifen, dass er etwas Fundamentales verletzt hat: Da Vertrauen sich im öffentlichen Raum sicher bewegen zu können. Vertrauen in den Staat – d.h. ausreichend Personal – darf auch was kosten, auch wenn das Schnellverfahren auf unstrittige Fälle beschränkt sein muss.
 

Recht und Ordnung für alle Gruppen

Ein Grund für den Erfolg der CDU in Berlin war die Forderung nach Recht und Ordnung – auch viele Deutschtürken und Deutscharaber hängt das Macho-Gebaren zum Hals raus. Allerdings wünscht sich die Autorin das gleiche Engagement bei Angriffen auf Schwule, Behinderte oder Transfrauen. „Wäre es nicht eine hübsche Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet die CDU deren Fürsprecherin würde?
Dasselbe gilt für die Gegenden in Ostdeutschland, die von Neonazis terrorisiert werden. Bei der Kritik rechter Übergriffe hält sich die Union zurück. Je früher die Beteiligten aller Parteien verstehen, dass sie hier wie da "mitgemeint" sind, dass der Schutz des öffentlichen Raums jedermann betrifft, desto besser.

Montag, 26. Juni 2023

Muss Deutschland lernen, Streit auszuhalten?

In einem Streitgespräch in der Süddeutschen Zeitung geht es um die Frage, ob Deutschland Streit aushalten muss.

Diesem Land fehlt der Streit

Michael Bauchmüller sagt: Nur wenn in einer Demokratie über große Entscheidungen gestritten wird, gibt es auch eine breite Akzeptanz dafür. Er kritisiert, dass dieses Land bei vielen Themen gespalten ist, aber oft Sprachlosigkeit, im schlimmeren Fall Wut herrscht.
Streit ist unbequem, braucht Geduld und die Bereitschaft zum Argument. Aber er erfordert eine gemeinsame Basis: Mit Leuten, die die Erde für eine Scheibe halten, lässt sich nicht über die Zukunft des Planeten diskutieren. Mit allen anderen dagegen schon.
Im Falle der Debatte über die Heizung hätte er sich eine Debatte mit einer einfachen Frage gewünscht: Klimaneutral wohnen bis 2045 – wie soll das eigentlich gehen? Statt Unsicherheit und Spaltung hätte ein besseres Gesetz herauskommen können.

Demokratie als Ochsentour

Die Demokratie ist die Ochsentour, sie ist mehr, als alle vier Jahre ein Parlament zu wählen. Im Grunde besteht sie im ständigen Ringen um Mehrheiten. Breiten Debatten sollte dabei nicht aus dem Weg gegangen werden. Mit einer gespaltenen Gesellschaft lässt sich keine der großen Fragen dauerhaft lösen.

Streit als Selbstzweck? Dafür ist keine Zeit


Alex Rühle hält dagegen, dass es in der Klimapolitik Tatsachen gibt, die man nicht mehr diskutieren muss – denn jetzt ist Handeln gefragt.
Er vergleicht die Klimakrise mit einem Flugzeug, dessen Tanks fast leer sind (so wie unser Restbudget an Emissionen bis zum 1,5-Grad- oder auch Zwei-Grad-Limit). Ein zielorientiertes Gespräch, bei dem jeder eine realistische Lösung vorschlägt, wie man die Maschine jetzt noch sicher landet oder um es ganz konkret zu machen, wie man das 1,5- oder das Zwei-Grad-Ziel noch erreicht, ist so sinnvoll wie notwendig. Abstruse Erzählungen von skurrilen Gesprächsteilnehmern sind aber nur destruktiv: „All das hat nichts mit sinnvollem Streit zu tun, aber viel mit Lobbymacht und Missbrauch des Informationsauftrags der Medien“.

Die Fakten liegen auf dem Tisch

Der Autor kritisiert die Maßnahmen der Regierung: 140 neue Autobahnprojekte, Kohlekraftwerke, die jetzt doch erst mal weiterlaufen, ein verwässertes Klimaschutzgesetz, ein entkerntes Heizungsgesetz, das Verkehrsministerium bleibt Autoministerium und muss weiterhin nicht liefern.
Das Pariser Klimaabkommen ist völkerrechtlich bindend, um die Ziele zu erreichen muss viel passieren. Er befürchtet, dass die nächste Generation staunend fragt: Die Fakten lagen alle auf dem Tisch, es war sonnenklar, dass das Weiter-so in die Zerstörung führen wird. Dann wird der Lehrer ihnen erklären: „Ihr müsst verstehen, sie haben gestritten.“

Mittwoch, 10. Mai 2023

Die Mär von der Cancel Culture

In der Frankfurter Rundschrau beschreibt Hadja Haruna Oelker die Mär von der Cancel Culture.

Die Sorge vor dem neuen Tugendterror speist sich mehr aus Übertreibung als einer Gefahr.

Immer wieder in den letzten Jahren die Angst vor moralisierenden, überempfindlichen und woken Tugendterroristinnen, Sprachpolizisten, Lifestyle-Linken und Social Justice Warriors beschrieben, die eine Identitätspolitik und Cancel Culture betreiben.
Die Autorin bezweifelt, dass es diese Bedrohung wirklich gibt und verweist auf den umstrittenen Auftritt von Boris Palmer an der Uni Frankfurt. Zum Eklat kam es jedoch, weil der eingeladene Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, erneut das N-Wort benutzte und eine Kritik daran auf holocaustverharmlosende Weise abwehren wollte.

Von Ungerechtigkeiten ablenken und anti-woke Gesetze durchsetzen.

Auch in den USA wurde heftig über Cancel Culture geredet. Untersuchungen zeigen, dass es meistens um überbewertete Einzelfälle geht. Mittlerweile hat eine Gegenbewegung eingesetzt: Über Cancel Culture zu reden, hilft also dabei, nicht über Ungerechtigkeiten sprechen zu müssen. Das führt dazu, anti-woke Gesetze durchsetzen zu können. So hebelte der Oberste Gerichtshof das Recht auf Abtreibung. Floridas Gouverneur Ron DeSantis bekämpft Antidiskriminierungspolitik mit allen Mittel: Er verbot über Homosexualität und Transsexualität zu sprechen und sorgte dafür, dass progressive Bücher verboten werden. In republikanisch regierten US-Bundesstaaten wurden in den letzten Monaten zahlreiche Gesetze erlassen, um woke Firmen zu bestrafen. Mittlerweile hat sich auch eine globale Allianz gebildet, bei der auch Ungarns Regierungschef Viktor Orban aktiv ist.

Diskussion in Deutschland

Die Situation in den USA lässt sich nicht mit der in Deutschland vergleichen. Was sich allerdings ähnelt, sind die Mechanismen anti-woker Haltungen. Das Muster, dem „Gegner“ die Macht entziehen zu wollen, was genau der Logik folgt, die ihm vorgeworfen wird. Dem Theoretiker Antonio Gramsci nach erfolgt ein gesellschaftlicher Wandel zuerst durch die Dominanz auf dem kulturellen Feld, dann erst kommt die politische Veränderung. Das passiert auch in Deutschland, letztes Jahr veranstaltete die liberal-konservativen Denkfabrik R 21 eine Konferenz: „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ Die Initiatoren, u.a. der Autor Ahmad Mansour und Ex-Familienministerin Kristina Schröder warnt vor woken Linken und Rechtspopulisten, die Frage ist aber, ob ihre Kritik ausreichend Distanz zu rechter Feindbestimmung hält.

Einfache Lösungen beliebt, aber meist nicht passend

Cancel Culture ist kein wertneutraler Begriff und reicht für eine differenzierte Diskussion kaum aus. Deshalb liefert diese Idee auch keine adäquate Erklärung für unsere Zustände. Was sie aber tut: Sie bietet einfache Lösungen an, und genau diese waren schon immer beliebt.


Sonntag, 30. April 2023

Klimaprotestierer sind die neue APO

Heribert Prantl verteidigt in der Süddeutschen Zeitung die Aktivisten der „Letzten Generation“.

Gefeierte Straßenblockaden

Ende Februar 1984 gab es eine tagelange Dauerblockade auf der Inntal-Autobahn. Bis zu 1500 Lastzüge und Sattelschlepper hatten sie aus Protest gegen echte und angebliche Schikanen am Brenner aufgestaut. Der damalige bayerische Ministerpräsident Strauß verteilte Wurstsemmeln, andere Politiker forderten Straffreiheit. Ähnlich erging es den Kumpeln, die aus Protest gegen die Schließung von Zechen Brücken besetzten. Aber nicht alle Straßenblockaden wurden gefeiert, so Proteste von Kriegsdienstgegner in den 1950er oder Proteste gegen Atommülltransporte

Blockaden gehören zu den Formen jugendlich-zivilen Ungehorsams

Die Letzte Generation erhält kaum Zustimmung, obwohl die Ziele durchaus auf Zustimmung stoßen. Selbst die Grünen, die mit dieser Form groß geworden sind, lehnen die Aktivitäten ab: „Regieren
essen Seele auf.“
Für Prantl gehören Blockaden zu den Formen zivilen Ungehorsams. „Zeichenhafte Handlungen zum Schutz von bedeutsamen und gefährdeten Gütern wie Klima und Umwelt sind legitim, auch wenn sich die Handelnden dabei gelegentlich verzeichnen - wie bei den Attacken auf das Grundgesetzdenkmal in Berlin.“

Proteste sind gerechtfertigt

Die Ungehorsamen sind bereit, die Konsequenzen zu tragen. Diese sind in einigen Fällen mit mehrmonatiger Haft ohne Bewährung drakonisch. Sie handeln im Bewusstsein ihrer Verantwortung für das Leben künftiger Generationen. Das sollte gerade eine Partei wie die Grünen nicht einfach wegwischen. Prantl kritisiert das Bundesverfassungsgericht, das nach seinem Klimaurteil im April 2021 alle weiteren Klagen abgelehnt hat -zum Teil ohne jede Begründung. „Da lohnt sich ein Protest.“

Freitag, 3. März 2023

Ist die Jugend verrückt geworden?

Gerhard Matzig beschreibt in der Süddeutschen Zeitung die Jugend von heute: „Sie fliegen nach Thailand, machen den Führerschein, rauchen wieder, wählen FDP - und kleben sich fürs Klima fest: Die sogenannten jungen Leute ticken wohl nicht ganz sauber.“ Aber nicht die Jugend, sondern die Generationenforschung und ihre Zuschreibungen sind verrückt geworden.

Über die Jugend jammern

Bereits Sokrates und Platon jammerten über „Die Jugend von heute“. Die Union kümmert sich um die Jugend nur dann, wenn es aus Imagegründen darum geht, die Union gerontokratisch zu entstauben. Das Ergebnis: der aufgeweckte Philipp Amthor. Eigentlich sollte man aufhören zu lesen, wenn ein Text mit „die Jugend“ beginnt, da es oft mehr über den Betrachter als die Realität aussagt.

Noch nie wollten so viele den Führerschein machen.

Die Jugend kämpft eben nicht nur gegen die klimaschädliche Mobilität, sondern sie wollen den Führerschein – und fallen dann bei der Prüfung durch, weil sie komplexe Aufgaben kaum bewältigen kann. Viele jungen Menschen leben auf dem Dorf, wo Autos oft noch notwendig ist. Ebenso relativ wie der Standort ist das Alter. Beschreiben die Vereinten Nationen Jugendliche als „Menschen zwischen 15 und 24“, gelten in manchen Regionen alle über 18 als alt.

Etikettierende Generationenforschung

Boomer, X, Y, Z- und bald Alpha-Generation. Es gibt eine Art Ursünde, die darin besteht, Teil einer definierten Alterskohorte sein zu müssen. Schade. Denn in Ermangelung eindeutiger Generationenbegriffe könnte man sich ja auch mal die vermeintliche Eindeutigkeit mancher Generationenkonflikte sparen. Junge Menschen wollen beides: einen intakten Lebensraum, der die Anzahl an Einfamilienhäuser und die Öko-Bilanz einschränkt. Sind junge Menschen also einfach nur gaga? Sind sie nicht.

Wir wollen die Jugend gerne so, wie wir selbst gerne wären

Die Wahlergebnisse sind nicht so eindeutig, bei der letzten Wahl wählten viele jungen Menschen die FDP. "Wir" sehen die Jugend nicht, wie "sie" ist, nämlich differenziert, auch grau, sondern so, wie wir denken, dass sie sein sollte.
Junge Menschen sind an die Dauerverfügbarkeit aller Konsumgüter herangeführt worden, einige sind konsumorientiert. Der neue Jugendstil ist also offenbar mehrheitlich nicht fleischkritisch, achtsam, flugscheu, drogenfrei, autolos, eigenheimfern. Das ist nur ein Bild, das "wir", die Eltern, gerne von der Jugend hätten. Wir sehen in ihr, was wir selbst gern wären. Und auch nicht sind.

Donnerstag, 9. Februar 2023

Es ist an uns, unsere Demokratie zu schützen!

In der Süddeutschen Zeitung berichtet Bernd Kastner über die eindrucksvollen Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung von Frank-Walter Steinmeier an der LMU München.

Es war ein einsamer Widerstand – ein Widerstand der Außenseiter.

Vor 80 Jahren legten Hans und Sophie Scholl das sechste Flugblatt ihrer Widerstandsgruppe in der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMU) aus. Danach wurden sie von einem Hausmeister erwischt, wenig später verurteilt und hingerichtet. Steinmeier betonte, dass es nur wenige Widerständler gab – und die auch nach dem Krieg lange als Verräter gebrandmarkt halten.

Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit

Steinmeier nutzte ein Zitat der Flugblätter und rief zur Zivilcourage auf: "Beteiligen Sie sich an unserer Demokratie! Glauben Sie nicht den vermeintlich einfachen Lösungen! Stehen Sie auf und widersprechen Sie, wenn Menschen in ihrer Würde angegriffen werden!"
Sein Erinnern an die Weiße Rose verbindet Steinmeier mit der Feststellung, "dass die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich kennt". Diese Geschichte müsse dauerhaft Mahnung sein, "damit nicht wieder geschehen kann, was geschehen ist".

Nicht gleichgültig sein

Steinmeier erinnert an die rechtsextremen Anschläge gegen Walter Lübcke, in Halle und in Hanau. Den Mut der getöteten Widerständler und der vielen, die in anderen Städten unter großer Gefahr mithalfen, die Flugblätter zu verteilen, nimmt er als Ansporn für die heutige junge Generation. "Jeder, der an mehr denkt als nur (an) sich selbst, stärkt das Rückgrat der Demokratie."
Und weiter: "Es ist an uns, unsere Demokratie zu schützen!" Es ist an uns, nicht gleichgültig zu sein."

Donnerstag, 12. Januar 2023

Die Silvester-Randale: Die Aggression der Ausgegrenzten

Zwei Kommentare beschäftigen sich mit den Randalen in der Silvesternacht in Berlin.

Nicht das Böllern ist das Problem, sondern der mangelnde Respekt

Georg Ismar sieht in der Süddeutschen Zeitung nicht im Böllern das Problem, sondern im mangelnden Respekt. Die SPD forderte im Wahlkampf „Mehr Respekt“ – für manche Feuerwehrleute klingt dies wie Hohn, sie fühlen sich zu wenig geschützt. Vor allem junge Männer aus dem migrantischen aber auch rechtsextremen Milieu sehen den Staat zunehmend als Feind.
Statt auf Böllerverbote fordert der Autor eine Debatte, „wie man Polizei- und Feuerwehrbeamte wirklich besser schützt, wie vielleicht prominente Multiplikatoren als Brückenbauer zu den Milieus, aus denen die Täter kommen, eingesetzt werden könnten. Und wie zugleich die Abschreckung erhöht werde kann, um den Schutz für die Einsatzkräfte auch jenseits von Wahlkampfsprüchen zu erhöhen.“

Silvesterrandale in Berlin: die Aggression der Ausgegrenzten

Constanze von Bullion kritisiert in der Süddeutschen Zeitung, wie „die Silvesterrandale mit schlafwandlerischer Sicherheit zu einer Migrationsdebatte umfunktioniert wurden. „Jung-männer spielen da Krieg gegen den Staat“, „arm an Perspektive, dafür aber umso reicher an Testosteron“. Für die Autorin ist dies die Aggression einer wachsenden gesellschaftlichen Unterschicht ohne Deutungshoheit im öffentlichen Diskurs.
Mitleid haben die Kiezgladiatoren nicht verdient, denn sie handeln ohne Rücksicht auf Verluste auch in ihrem eigenen Kiez. Es darf aber nicht wieder der Gleichgültigkeit vorherrschen: „Wenn der Pulverdampf über Neukölln und Marxloh verraucht ist, wird das Land sich wieder in gewohnter Gleichgültigkeit üben. Man wird es überlasteten Lehrerinnen und Quartiersmanagern überlassen, sich mit fehlenden Bildungschancen und Frust in Großstadtrevieren auseinanderzusetzen, mit Ignoranz, prügelnden Vätern und dem ganzen Schlamassel objektiver Benachteiligung und gefühlter Unzugehörigkeit.“ Für die Autorin ist nicht entscheidend, ob die Jugendliche aus Einwanderfamilien stammen. „Es gilt, auf allen gesellschaftlichen Etagen demokratischen Gemeinsinn durchzusetzen, aber eben auch gleiche Teilhabe. Davon ist Deutschland weit entfernt.