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Freitag, 19. September 2025

Nils Kumkar über Polarisierung: Wir müssen Konflikte austragen

Nils Kumkar hat ein Buch über Polarisierung. In einem Interview und einer Rezension berichtet. Polarisierung ist auch ein wichtiges Thema bei meinen Seminaren  zu gesellschaftlichen Themen. 

"Wir sollten uns trauen zu polarisieren. Sonst tun es die anderen"

In einem Interview im SPIEGEL  bezweifelt der Soziologe Nils C. Kumkar, dass die ideologischen Gräben in Deutschland immer tiefer werden – und fordert, Konflikte auszutragen. 

Es gibt keine grundsätzliche Polarisierung 

Das Konzept der Polarisierung wird herangezogen, um Probleme zu erklären. Kumkar bestreitet dies, da sich die Menschen in vielen Punkten weitgehend einig sind, z. B. zu unterschiedliche Lebensformen oder die Haltung zum Schwangerschaftsabbruch. Auch beim Streitthemen, gibt es nicht zwei Großgruppen, bei denen eine offene Grenzen überall und die andere Einwanderung komplett ablehnt. 

Affektive Polarisierung nimmt zu, wird aber überschätzt 

Affektive Polarisierung bedeutet, dass sich die politische Lager immer stärker ablehnen. Diese nimmt zu, aber auch diese wird überschätzt. Dies hatte auch schon Steffen Mau in ihrem Buch Triggerpunkte beschrieben: Es ibt eine gefühlte Polarisierung, aber keine reale 
Diese Arbeiten haben auch gezeigt, dass Andreas Reckwitz mit seiner Analyse „Die Gesellschaft der Singularitäten“ nicht richtig ist: Die Gesellschaft zerfällt nicht in die Grünen-wählenden Latte-Schlürfer in Berlin oder Hamburg und die AfD-wählenden Wutbürger in Cottbus oder Görlitz.

Kommunikative Polarisierung 

In seinen Forschungen hat Kumkar herausgefunden, dass es bei den Menschen nicht so sehr um Politik, sondern um Kommunikation geht. Sie beklagen, dass man früher trotz unterschiedlicher Meinung miteinander reden konnte und die nicht mehr so ist. Er nennt dies Kommunikative Polarisierung. Ein Konflikt zwischen Extremmeinungen wird oft nur unterstellt.
Als Beispiel nennt er den Beschluss der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. Sie positioniert sich zwischen zwei Lagern, die sich gar nicht zu Wort gemeldet habe. 
Eine kommunikative Polarisierung hält er für unvermeidlich, denn moderne Politik operiert über Konflikt. . Auch Medien prämieren Konflikt – mit Aufmerksamkeit, in Talkshows oder Leitartikeln. Es knallt dauernd, weil das auch unterhaltsam ist.

AfD als Fundamentalopposition 

Die AfD hat es geschafft, sich als Fundamentalopposition zu präsentieren. Die anderen Parteien machen dabei mit – so der Ministerpräsident von Brandenburg Dietmar Woidke, der mit der Parole „Wir gegen die“ die Wahlen gewonnen hat. Diese Polarisierung hat die Wahlbeteiligung erhöht. 
Die Ergebnisse der Bundestagswahl bei jungen Menschen zeigen, dass diese weniger Skrupel haben, extreme Parteien zu wählen. 

Soziale Medien als wichtiger Faktor 

Es gibt Selbstbestätigungszirkel, in denen sich Menschen nur mit Meinungen umgeben, die ihr eigenen widersprechen. Viele nutzen aber Meiden auch, um sich über Unterschiede zu informieren. 
Meinungen richten sich an vermeintlichen Extremen aus, viele sehen sich selbst in der Mitte und halten die anderen für Extremisten.
Die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf hat gezeigt, wie über soziale Medien eine Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht verhindert werden kann. Er betont aber, dass nicht nur die AfD auf Polarisierung setzt, die Linke setzt auf Konflikt: Verbraucher gegen Konzerne, Mieter gegen Vermieter. 

Gegensätze offenlegen und Konflikte suchen 

Kumkar fordert, dass d Politik und Gesellschaft keine Scheu haben sollte, Gegensätze offenzulegen und Konflikte zu suchen – auch wenn sie polarisieren. Neben Migration fodert er auch Diskussionen über Klimapolitik, sozialer Ungleichheit, Wohnungspolitik? Da gibt es Interessenkonflikte, und die gilt es auszutragen.
Seine Schlussfolgerung: Wir sollten uns trauen zu polarisieren: Die Demokratie hält nicht, weil alle sie und einander gut finden. Die Demokratie hält, weil und wenn sie sich darin bewährt, mit Uneinigkeit umzugehen.

Wem nützt Polarisierung?

Peter Laudenbach stellt in der Süddeutschen Zeitung das Buch von Nils Kumkar vor.

Polarisierung als Aufmerksamkeitsverstärker 

Kumkar untersucht nicht die Streitthemen, sondern die Wahrnehmung: Wovon reden wir, wenn wir von Polarisierung reden? Die Pole von Debatten stellten eine Magnetfeld dar, der die gesamte Debatte strukturiert. Dabei stehen die meisten Menschen in der Mitte. Treiber dieser Dramaturgie sind die Funktionsweisen sozialer Medien. Die Polarisierung sind Aufmerksamkeitsverstärker, Interpretationsschema oder Mittel zur Komplexitätsreduktion: Richtet sich die Debatte an zwei entgegengesetzten Polen aus, ist sie gleich viel übersichtlicher.

Konflikte sind der Normalfall 

Konflikte sind für Kumkar ein Kennzeichen liberaler Demokratie und nicht unbedingt ein Krisensymptom – sondern der Normalfall. Polarisierung ist kein Grund zur Panik, sondern hochfunktional und unvermeidlich. Politische Wirkung entwickelt, wer die Streitthemen setzt – und seien es alberne Petitessen wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache im amtlichen Schriftverkehr.

AfD nutzt Themen zur Polarisierung 

Für die AfD läuft alles nach Plan und nutzt die Konflikteskalation als Selbstzeck: Wir gegen alle anderen. Deshalb wirken die Forderungen nach „inhaltlich stellen“ ins Leere. Die AfD wird jedes Reiz- und Triggerthemen durch ein weiteres ersetzen. Auch wenn kein einziger Migrant mehr nach Deutschland kommen sollte, wird sich das Polarisierungsunternehmen AfD nicht auflösen, sondern die Leerstelle mit anderen Feindbildern besetzen. Die AfD wendet sich gegen die Spielregeln, gegen die Politik und das System. Sie beteiligen sich an der Debatte um den Debattenraum zu zerstören. 


Freitag, 15. August 2025

Weniger Migrantenkinder -bessere Bildung?

Martin Spiewak analysiert in der ZEIT die Forderung der neuen Bildungsministerin Karin Prien nach einer Obergrenze für Schüler mit Migrationshintergrund. Er fordert stattdessen gezielte Maßnahmen, um Schulen gezielt zu unterstützen. 

Heftige Diskussionen nach Priens umstrittenem Vorschlag 

Bundesbildungsministerin Karin Rien hat in Interviews über eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund nachgedacht. Wie sie selber sagte, steht diese Begrenzung weder im Koalitionsvertrag, noch ist sie zuständig. Auch der Begriff „Quote“ ist fragwürdig, denn es soll ja nicht wie z.B. bei der Frauenquote ein bestimmtes Ziel erreicht werden, sondern begrenzt werden. Dennoch entwickelte sich eine heftige Diskussion: Sorgen Kinder mit Migrationshintergrund für sinkende Lernniveaus. Profitieren sie vielleicht sogar von diesen Ideen? 

Der Autor stellt Erkenntnisse aus der Wissenschaft vor: 

1. Sind Einwandererkinder für die schlechten Leistungen verantwortlich?

Tatsächlich zeigen Schulvergleiche, dass Schüler mit Einwanderungsgeschichte schlechtere Leistungen erbringen, in Deutschland fallen diese Unterschiede sogar besonders groß aus. Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass die widrigen Umstände viel entscheidender sind. Studien zeigen, dass Kinder aus armen und bildungsfernen Familien schlechtere Leistungen zeigen, egal ob sie eingewandert sind oder nicht – ein "Hartz-IV-Deckel" wird jedoch bislang nicht gefordert.

2. Gibt es einen Anteil an zugewanderten Schülern, ab dem das Lernen nicht mehr funktioniert?

Studien zeigen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Lernerfolgen und dem Anteil an Migranten gibt: Ein Schüler hat in einer Klasse mit 15 Prozent Anteil Zugewanderter größere Chancen, Fortschritte zu machen, als in einer mit 30 Prozent. Allerdings gibt es keinen Kipppunkt, ab dem negative Effekt besonders ausgeprägt sind. 

3. Ist Dänemark ein Vorbild? Oder die USA?

Dänemark wird als Vorbild genannt, allerdings gibt es dort keine Obergrenzen für Schulklassen. Stattdessen will man Stadtteile mit vielen Migranten aus „nicht-westlichen“ Herkunftsstaaten per Dekret verändern. Die Kinder dieser Viertel müssen verpflichtend eine Kita besuchen und Sprachtests absolvieren.
Das bekannteste Beispiel war die USA, die die Rassentrennung durch „Busing“ verändern wollte. Schüler aus armen schwarzen Vierteln wurden mit wohlhabenden weißen Vierteln gemischt. Auch die frühere Vizepräsidentin Kamala Haris hat davon nach eigenen Angaben davon profitiert. Es gab heftigen Widerstand und Ausschreitungen, zum Teil flohen weiße Eltern aus den Schulbezirken. Studien zeigen, dass sich in den gemischten Klassen die Leistungen der schwarzen Schüler verbesserten, ohne dass die weißen Schüler weniger lernten.

4. Ließe sich ein "Migrantendeckel" in Deutschland umsetzen?

In West-Berlin wurden solche Maßnahmen erprobt, allerdings scheiterte das Proberamm, weil Fahrkosten nicht übernommen wurden, vor allem aber, weil ein umgekehrter Transfer von Schülern ohne Migrationshintergrund auf große politische Widerstände stieß. Der Autor vermutet, dass auch heute die überwiegend nichtmigrantischen Akademikereltern ein Hindernis für die Durchsetzung der Obergrenze. „Sie mögen sich für weltoffen halten, sind aber die wahren Treiber der Segregation“. 
Als in Nordrhein-Westfalen die Pflicht aufgehoben wurde, sein Kind auf eine Schule im Umkreis zu schicken, mied die bildungsbewusste deutsche Mittelschicht fortan die Schulen vor der eigenen Haustür, sofern dort Kinder aus armen und bildungsfernen Familien lernten. Auch in sozial durchmischten Stadtvierteln sind die Schulen segregiert, verantwortlich dafür sind die Eltern."
Eine Obergrenze bei 30 oder 40 Prozent ist zudem schon aus demografischen Gründen unrealistisch: Der Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte unter den 0- bis 15-Jährigen lag in Deutschland im vergangenen Jahr bereits bei 42,5 Prozent. Man müsste Kinder aus Bremen also nach Bautzen schicken. 

5. Was könnte helfen?

Solange es segregierte Stadtteile gibt, wird es segregierte Schulen geben. Deshalb müssten Schüler, die es herkunftsbedingt schwerer haben, stärker unterstützen: mehr Lehrkräfte, Nachhilfe, gezielte Arbeit in den Familien. Hamburg macht es vor: sogenannte Brennpunktschulen werden direkt gefördert. Ein ähnliches Programm soll für die Kitas kommen. In der frühen Bildung sehen so gut wie alle Experten das größte Potenzial. Bisher funktionieren die Maßnahmen. Selbst nach mehreren Jahren in der Kita haben viele Einwandererkinder nicht genug Deutsch gelernt, um bei der Einschulung dem Unterricht gut folgen zu können.
Der Autor fordert: „Eine gezielte Privilegierung von unterprivilegierten Schulen und Kitas – mehr Fachkräfte, attraktivere Gebäude, bessere Förderprogramme – könnte sogar für alle Eltern interessant sein. Und am Ende die Debatte über Deckel, Obergrenzen oder Quoten überflüssig machen.“

Sonntag, 10. August 2025

Unsere Gesellschaft ist verrohter als viele denken

In einem Beitrag für den SPIEGEL  kritisiert der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, dass Gewalt und Rücksichtslosigkeit kleineredet werden: Diese Selbsttäuschung muss aufhören, sonst wird sich das Problem noch verschärfen

Unsere Gesellschaft verroht 

Umfragen zeigen, dass viele Menschen eine Verrohung der Gesellschaft spüren, sie beklagen mehr Egoismus und eine gesteigerte Aggressivität. Einige führen die ansteigende Zahl von Straftaten auf eine erhöhte Anzeigenbereitschaft und mehr Polizeiarbeit zurück. Diese Sensibilisierungsthese soll beruhigend wirken: So schlimm ist es gar nicht. Heitmeyer widerspricht dieser These und verweist auf die zahlreichen Befunde im gesellschaftlichen Alltag. 

Durchrohung mi unterschiedlichen Gewaltformen 

Für ihn ist Durchrohungsthese zutreffender. Der Begriff der Durchrohung beschreibt, wie private, öffentliche oder institutionelle Strukturen Menschen dazu stimulieren, Macht zerstörerisch einzusetzen. Die Gewaltformen reichen von Demütigung über Hass zu Gewalt. Diese Gewalt gibt es im privaten und öffentlichen Raum: gegen Polizei und Rettungskräfte, im Straßenverkehr, Schulen, in ökonomischen Räumen gegen Beschäftige, in der Politik und nicht zuletzt in den virtuellen Räumen des Internets. Er stützt sich dabei auf „unbeleuchtete Dunkelzonen“, d.h. Umfragen bei Ärzten, Mitarbeitern öffentlicher Einrichtungen, die über zunehmende Angriffe klagen. 

Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Verhalten 

Die These von der Durchrohung sieht einen Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Verhalten.
Die zentrale gesellschaftliche Struktur ist das Wirtschaftssystem. Der Kapitalismus muss sich um des eigenen Überlebens willen immer weiter ausbreiten und betrifft zunehmend auch den sozialen Bereich. Dadurch werden Menschen bewertet, wie nützlich, verwertbar und effizient sie sind. Der deregulierte Turbokapitalismus hat zu massiven sozialen Ungleichheiten geführt: 
Die Gesellschaft fällt dadurch zunehmend auseinander, viele Menschen fühlen sich verletzt und vermissen gesellschaftliche Anerkennung. Untersuchen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gewalttaten. 

Soziale Individualisierung und kulturelle Singularisierung 

Der Soziologe Ulrich Beck hat die Individualisierungsprozess der Moderne bestimmt. Nicht mehr Herkunft und Klassenzugehörigkeit, sondern das individuelle Handeln ist prägend. Sie sind gezwungen, ihren Lebensplan durchzusetzen. Je individueller die Lebensplanung wird, desto mehr widersprüchliche und unklare Anforderungen werden an den Menschen gestellt. 
Der Soziologe Andreas Reckwitz betont die Logik des Besonderen, das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Diese Kriterien ändern sich ständig. Der zentrale Modus dieser kulturellen Singularisierung ist die Demonstration von Überlegenheit in der Alltagskommunikation.

Subjektivierung von Werten und Erosion von Normen

Beide Prozesse haben weitrechende Folgen. Sie betreffen die Subjektivierung von Werten (»Was als Wert gilt, bestimme ich«) und die Erosion von Normen (»Woran ich mich halte, bestimme ich«). Reckwitz verweist zudem auf die Relevanz von Affekten. Diese negativen Emotionen führen zur Verbreitung von Hass und Gewalt. Das inzwischen von autoritären Bewegungen und Parteien propagierte Ideal harter Männlichkeit verschärft die Problematik.
Wir erleben eine Abfolge von Krisen, in denen politische Instrumente nicht mehr funktionieren und viele Menschen dadurch Kontrollverluste erfahren. Das verringert das Gefühl, das eigene Leben selbstwirksam gestalten zu können und der Erwartung nach Einzigartigkeit zu entsprechen.

Debatte über Durchrohung ist notwendig 

Heitmeyer betont, dass die beschriebenen Strukturen, der Verlust von Empathie und die schwindende Bindung von Rechtsnormen zu dieser Verrohung führen. Beunruhigend ist, dass dies im Interesse von Akteuren mit Macht und Einfluss ist, die uns weiterhin etwas vorlügen können. Dazu gehören Wirtschaftsführer, die vom Kapitalismus profitieren, Politiker, die diese ökonomischen Strukturen nicht thematisieren und Meiden, die nicht auf diese Zusammenhänge hinweisen. Er fordert deshalb eine „produktiv radikale Debatte über die gesellschaftliche Produktion der Durchrohung“, ansonsten werden die Probleme weiter zunehmen – und das Bemühen, sie zu verdrängen.

Montag, 4. August 2025

Die junge Generation ist sensibel und klug

In einem Interview im SPIEGEL betont der Jugendforscher Klaus Hurrelmann: „Ich halte die junge Generation nicht für faul, sondern für sensibel und klug“. 

Junge Menschen werden in einer krisengeschüttelten Welt groß 

Studien zeigen, dass sich junge Menschen stark belastet fühlen – nicht erst seit der Coronapandemie. Der Anteil derjenigen, die therapeutische Hilfe benötigen, hat sich auf 20 % erhöht. Zwar mussten auch frühere Generationen mit Herausforderungen umgehen, wie z.B. durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Heute sehen sich jüngere Menschen aber vielen Krisen gegenüber. 
Durch digitale Kanäle wird jedes Ereignis verstärkt, dramatisiert und multipliziert. Fast ein Drittel der jungen Menschen haben keine Kontrolle über ihren Social-Media-Konsum. 

Sorgen um Krieg in Europa und Inflation 

Die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ zeigt, dass mittlerweile der Krieg in Europa und die Inflation die größten Sorgen von Jugendlichen sind – nicht mehr der Klimawandel wie bei der letzten Studie vor fünf Jahren. Viele haben Angst, dass ihre Arbeit in zehn Jahren noch sicher ist und sie sich das Leben leisten können. Die steigenden Preise verstärken diesen Effekt. Daran ändert auch der Fachkräftemangel nichts, denn die Jungen werden viel Verantwortung stemmen müssen. 

Klimawandel kein großes Thema mehr 

Für Hurrelmann war die Coronapandemie entscheidend, dass der Klimawandel keine große Rolle mehr spielt, denn die beiden Hebel von Fridays for Future – Schulschwänzen und Demonstrieren – wurden hinfällig. Er bedauert dies, denn er sah die Chance auf gesellschaftliche Veränderungen. Zahlenmäßig waren mehr Menschen beteiligt als bei der 68er Generation. 

Kinder zu sehr in Watte gepackt 

Die Kinder der 68er haben laut Hurrelmann ihre Kinder zu sehr in Watte gepackt. Studien zeigen, dass die Hälfte der Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder oft überfordert ist und ein Drittel sogar erschöpft und am Rande ihrer Möglichkeiten. Viele Eltern hinken den technischen Möglichkeiten ihrer Kinder hinterher und haben ihren eigenen Medienkonsum nicht im Griff. Folglich hält er auch für Verbote von sozialen Medien für kontraproduktiv. Besser wäre es, die Konzerne zu regulieren.

Generationen müssen im Dialog bleiben 

Er beklagt, dass ältere und jüngere Menschen immer weniger Bezugspunkte haben. Dabei wäre ein Dialog und die Akzeptanz wichtig, damit jeder seine Stärken einbringen kann. In Parteien, Vereinen und Kirchen ist das Durchschnittsalter hoch, junge Menschen diskutieren auf ihren digitalen Plattformen. Eine Wehrpflicht oder ein soziales Pflichtjahr befürwortet er nur, wenn alle in die Pflicht geworden, z.B. durch einen Pflichtdienst für Senioren. 

Die junge Generation verhält sich solidarisch

Hurrelmann betont, dass sich die junge Generation bereits solidarisch verhält. Während der Coronapandemie wurden sie als Letzte geimpft und schulen waren lange geschlossen. Sie tragen das Rentensystem und müssen immense Schuldenberge abbauen: Die Jungen leisten viel – auch wenn die Alten gern auf sie schimpfen.  Er fordert einen flexibleren Renteneintritt. Warum sollen Menschen mit 65 plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen sein? Er selbst hat nun mit 81 Jahren ein Buch über die Jugend geschrieben und versucht den Kontakt zu jüngeren Menschen zu halten. 

Junge Menschen haben ein gutes Gespür 

Hurrelmann bestreitet, dass jungen Menschen nicht mehr leistungsbereit sind. Sie blicken auf die gestressten Eltern, die dem Beruf alles untergeordnet haben, oft auch die eigene Gesundheit. Daher hält es für verständlich, dass sie andere Schwerpunkte setzen. Er lobt die Klimabewegung, die viel bewegt hat und kritisiert den Rechtsruck, auch wenn er die Ursachen herleiten kann. 
An seiner eigenen Generation kritisiert er, dass sie die Lebensleistung der Nachkriegsgeneration nicht ausreichend anerkannt hat, da diese unter katastrophalen Bedingungen ihren Alltag gemeistert haben. 


Donnerstag, 17. Juli 2025

Kulturkampf jetzt auch in Deutschland?!

Katharina Riehl kommentiert in der Süddeutschen Zeitung die geplatzte Wahl Frauke Brosius-Gersdorfs zur Verfassungsrichterin. Sie argumentiert, dass es auch in Deutschland einen Kulturkampf gibt. Dieses Thema greife ich auch in meiner aktualisierten Themenliste  auf. 

Lehrstück für einen modernen Kulturkampf 

Die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin zeigen mehrere Dinge. Der Unions-Fraktionsvorsitzende kann nicht führen, die Koalition wird ihrem Anspruch auf Geschlossenheit nicht gerecht und es ist ein Lehrstück über den modernen Kulturkampf. Wir gegen die, die gegen uns. Gegen die Professorin lief eine offensichtlich geplante Kampagne. Das rechtspopulistische Portal Nius und einschlägige Kanäle stellten sie als ultralinke Ideologin dar. Sie überfluteten Abgeordnete mit E-Mails und kritisierten die liberale Haltung zur Abtreibung und ihr Eintreten für eine Impflicht. 

Eine Schmutzkampagne wie aus dem Handbuch

Die meisten gegen Brosius-Gerstdorf vorgebrachten Vorwürfe sind unsinnig. Sie hat nie für eine Abtreibung bis zur Geburt geworben, vielmehr tritt sie für eine Entkriminalisierung in den ersten drei Monaten. Sie betonte auch immer wieder die schwierige Abwägung zwischen dem Schutz des Embryos und der Mütter. Bisher sorgte das austarierte Konstrukt, dass das Verhältnis zwischen liberale und konservative Richtern gleich bleibt -für die Union steht mit dieser Personalie konkret nichts auf dem Spiel.

Die Kampagne des „Plagiatsjägers“

Besonders absurd erscheint in diesem Zusammenhang ein selbsternannter „Plagiatsjäger“, der von rechten Kräften bezahlt auffallend häufig Frauen von der linken Seite ins Visier nimmt. Aber nicht mal er konnte ein Plagiat erkennen, übernommen wurden diese Vorwürfe in der Bundestagsdebatte dennoch, auch von Abgeordneten der Union. 

Kulturkämpfer brauchen keine Fakten

Oft reicht eine Idee, um eine brutale Debatte zu entflammen. Sie zeigt sich auch an dem Vorgehen gegen trans Personen, die bekämpft werden, als ob ihre schiere Existenz tatsächlich den Alltag der anderen bedrohen könnte. Die Bereitschaft abweichende Meinungen auszuhalten, ist auf beiden Seiten des politischen Spektrums kleiner geworden. Auch die Grünen haben einen Kandidaten der Union abgelehnt, allerdings gab es da keine digitale Hetzkampagne.

Harmonie zu verordnen, das alleine wird nicht reichen

Donald Trump hat in den letzten Monaten den Kulturkrieg durchgeführt – und in Deutschland sah man entsetzt zu. Aber auch in Deutschland droht die Ideologisierung der großen Themen die Parteien der Mitte zu zerreißen. Diese unversöhnliche Stimmung lässt sich nicht durch verordnete Harmonie nachholen.  „Wer ideologische Gräben verkleinern will, muss sie erkennen, muss moderieren, muss überzeugen. Die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf nachzuholen, wäre dafür ein guter Anfang.“

Meine Seminare zu gesellschaftlichen Themen

Zum Thema Gesellschaft biete ich eine Reihe von Themenvorschläge . Dazu zählt ein Seminar über die Frage, ob Deutschland gespalten ist und ein neuer Vorschlag über den Kulturkampf. Unter dem Titel „Über (Anti-)Wokeness, Abtreibung und Gendern – ein Kulturkampf?“ stelle ich die Begriffe vor und diskutiere, ob wir uns bereits in einem Kulturkampf befinden. 

Mittwoch, 25. Juni 2025

In der analogen Welt stören Kinder immer

Der Soziologe El Mafaalani hat ein Buch über die Lage von Kindern (Minderheit ohne Schutz) geschrieben und geht dabei der Frage nach, wie man die Jugend nur so übersehen konnte. In einem Artikel im SPIEGEL und einem Interview in der Süddeutschen Zeitung berichtet er 

Minderheitenschutz für Kinder 

In seinem Artikel im SPIEGEL fordert Aladin El-Mafaalani einen Minderheitenschutz für Kinder, denn die alternde Gesellschaft ist weder kindergerecht noch ist sie gerecht zu Kindern.

Abwärtstrend in allen Bereichen 

Der Soziologe analysiert Probleme in allen Bereichen, die Kompetenzen der Schulkinder sind rückläufig, es fehlen Kita- und Schulplätze, das Armutsrisiko ist höher und auch Wohlbefinden und Gesundheit leiden. 

Ausnahme als Normalzustand 

Am Beispiel des Jahrgangs 2007 zeigt er die Probleme. Als sie acht Jahre alt waren, erlebten sie die Flüchtlingskrise, ihre Sporthallen dienten als Massenunterkünfte. Mit 13 zwang sie die Coronapandemie zum Stillstand. Sie wurden am stärksten eingeschränkt und benachteiligt.  Nach der Pandemie folgten von 2022 an der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Inflation – und wieder Geflüchtete in den Schulen. Hinzu kommen die Klimakrise, der Aufstieg des Rechtspopulismus und gestresste Eltern und Lehrer. 

Wie konnten wir die Jungen so übersehen?

Als diese Generation die schlechtesten Ergebnisse bei der PISA-Studie seit 2000 ablieferte, wurde die nüchtern zur Kenntnis genommen. Die Ergebnisse der Europawahl wurde mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Statt zu fragen, was mit der Jugend los ist, sollten wir fragen, wie wir die Jungen nur derart übersehen konnten. 
Eine Antwort: Weil es so wenige sind, andererseits können die Eltern die Interessen nicht wirkungsvoll vertreten. Sie haben nicht die Zeit und sind ihrerseits eine demokratische Minderheit. Dies führt zu eine Form der Diskriminierung: »Adultismus«, also die strukturelle Benachteiligung der Jüngsten. 
Da die Zahl der Kinder weiter abnimmt und das Durchschnittsalter steigt, wäre ein Minderheitenschutz und zukunftsorientiertes Handeln dringender denn je. 

Mindestens fünf große Baustellen 

Der Autor identifiziert mindestens fünf zu bearbeitende Baustellen: 
Familien müssen entlastet werden: mehr Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten 
Ohne die Alten geht es nicht. Es gibt viele Ältere mit Zeit und Lebenserfahrungen: würden sie sich stärker engagieren, könnten Kindergärten und Schulen entlastet werden, auch mit materiellen Anreizen. Die vielen Alten müssen ein substanzieller Teil der Lösung werden.
Die Bildung muss erheblich gestärkt werden. Dazu zählen mehr Geld und Personal, aber auch Verantwortung. Sie müssen attraktive Lern- und Lebensorte werden.
Die Rechte von Kindern müssen explizit Verfassungsrang bekommen. Juristisch mag richtig sein, dass Grundrechte auch für Kinder gelten, Ergänzungen sind aber nicht nur ein Symbol, sondern entfalten gesellschaftliche Wirkung.
Mehr  Mitbestimmung: Demokratien haben eine schwache Zukunftsorientierung, schon bald werden die Rentner die stärkste Wählergruppe ein. Jugendliche müssten deshalb die Chance erhalten, zu politischen Akteuren zu werden. Dazu zählt eine Absenkung es Wahlalters auf 16 und ein effektiver politischer Minderheitenschutz für junge Menschen. 

Die Zukunft im Blick

Zukunftsräte mit jungen Menschen zwischen 10 und 30 Jahren sollten sämtliche wichtigen Beschlüsse im Hinblick auf Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit prüfen, diskutieren, kommentieren.
Entscheidungen würden weiterhin von den demokratisch legitimierten Parlamenten getroffen, sie müssten sich aber ständig mit den Forderungen auseinandersetzen. Die Zukunft käme in den Blick.
Viele der heute 17 und 18jährigen werden die nächste Jahrtausendwende erleben. Deshalb erscheinen diese weitreichenden Maßnahmen gerecht: Wie sollen wir diesem Zeithorizont und all dem, was da kommt, gerecht werden, wenn nicht mit extrem weitreichenden Maßnahmen?

In der analogen Welt stören Kinder immer 

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung  konstatiert El-Mafaalani „In der analogen Welt stören Kinder immer“

Es gibt auch Positives 

Zu Beginn des Interview berichtet El Maffaalani über etwas Positives: Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern sowie zwischen Enkeln und Großeltern ist derzeit sehr gut. Die reinen interaktions- und Kommunikationsphasen haben die höchsten jemals gemessenen Werte. Positiv sind auch bessere Englischkenntnisse, die haben aber wahrscheinlich nichts mit der Schule, sondern eher mit Netflix zu tun. 

Gestresste Eltern 

Die mentale Last der Eltern ist groß, trotz Neuerungen wie Elterngeld oder Rechtsanspruch auf Kitaplatz. Die höchste Müttererwerbsquote gibt es in einkommensschwachen Familie. Es geht also schlicht darum, nicht unter die Armutsgrenze zu fallen. Kinder werden oft nur noch dann wahrgenommen, wenn sie stören oder nicht funktionieren? Die digitale Welt ist längst ein Beruhigungsmittel, weil Kinder und Jugendliche zu wenige andere Möglichkeiten haben.

Zu wenig Angebote und Räume 

Der Soziologe beklagt, dass es zu wenige Räume gibt, in denen sie sich einfach mal ausprobieren oder auch nur austoben kann, sind sehr rar. Es lässt sich nicht einfach klären, ob Kinder erst verdrängt wurden und sich deshalb in die digitalen Räume zurückgezogen habe oder umgekehrt. 
Wenn sich Jugendliche dann mal draußen treffen, drohen die ersten mit der Polizei 

Große Heterogenität 

Die Heterogenität der Familien– die Lebensbedingungen, die Interessen, die Sprachen, die gesprochen werden, die finanziellen Mittel, die zur Verfügung stehen, die Religionen – ist so groß wie nie. Was sie allerdings alle eint: Sie haben keine Zeit.

Junge Männer wählen rechts, weil die Frauen an ihnen vorbeiziehen

Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Wahlergebnisse auseinander gehen: Während Männer zunehmend rechts wählen, werden junge Frauen eher noch linker. Ein Grund könnte sein, dass die Frauen den Männer in vielen Bereichen überlegen sind. Allerdings fehlen verlässliche Studien. Eine weitere These ist, dass junge Menschen einfach diejenigen wählen, die sie direkt ansprechen und zumindest mal ein paar ihrer Probleme benennen. Dies ist ein Grund für die Wahl von AfD und Linken, denn die Die anderen Parteien haben junge Menschen auf eine desolate Art und Weise ignoriert. 

Kulturwandel nötig 

Auch im Interview fordert der Soziologe einen radikalen Kulturwandel: mehr teilhabe, mehr Mitbestimmung Bildungseinrichtungen sollen Familien nicht ersetzen, müssen aber Aufgaben , die 
Außerdem fordert er einen Minderheitenschutz, die mit einer besseren Wahrnehmung verbunden sein könnten. So könnten ausweisen, was Unter-30-Jähgike dazu meinen. In einigen Fällen könnte dies bedeuten: Deutschland ist dafür, aber diejenigen, die es ausbaden müssen, sind dagegen.

Freitag, 23. Mai 2025

Politische Kriminalität: Deutschland radikalisiert sich

Die Zahlen sind erschreckend. Im vergangenen Jahr gab es mehr als 84.000 politisch motivierte Delikte – die höchste Zahl seit zwei Jahren.

Rekordzahl politisch motivierter Straftaten

In der Süddeutschen Zeitung  analysiert Markus Basler die Zahlen.

Gewalt in Wahlkämpfen

Besonders während der Wahlkämpfe gab es viel Gewalt: Der SPD-Europapolitiker Matthias Ecke wurde krankenhausreif geprügelt. Ein ähnliches Bild ergab sich bei den Landtagswahlkämpfen: Die Zahl der polizeibekannten Fälle wuchs in Deutschland im Jahresvergleich um 40 Prozent auf 84 172 Delikte. Seit 2015 ist dies eine Verdopplung. Sie richteten sich in ähnlichem Umfang gegen Grüne (3204 Fälle) und AfD (3075 Fälle). Auch SPD (2546 Fälle) und CDU und CSU (1462 Fälle) waren oft betroffen.

Politisch motivierte Kriminalität vor allem von rechts

Auch die politisch motivierte Kriminalität hat stark zugenommen und kommt mit großem Abstand aus dem rechten Milieu. Die 43.000 Delikte bedeuten eine Zunahme um 48 Prozent. Auch Delikte aus dem linken und religiösen Lager haben zugenommen.
Am stärksten angestiegen ist die sogenannte ausländische Ideologie. Dabei macht sich auch bemerkbar, dass internationale Krisen und ganz besonders der Nahostkonflikt die Stimmung auch in Deutschland aufgeheizt haben.

Härte Strafen sollen helfen

Innenminister Dobrindt fordert härtere Strafen und mehr Videoüberwachung. Ein Verbostverfahren gegen die AfD lehnt er hingegeben ab – dafür reiche der Bericht des Verfassungsschutzes nicht aus.
Das Bundeskriminalamt verstärkt seinen Kampf gegen Sabotage- und Spionageversuche aus Russland.
Opferverbände forderten mehr Engagement der Ermittler. Strafverfolgungsbehörden würden rassistische Tatmotive zu oft nach wie vor nicht erkennen.
Der Deutsche Richterbund warnte davor, vor allem auf härtere Strafen zu setzen. Sie fordern mehr personelle Unterstützung, um die vielen unerledigten Fällen aufzuarbeiten.

Deutschland radikalisiert sich

Nicolas Richter kommentiert in der Süddeutschen Zeitung die Zahlen: Deutschland radikalisiert sich.

Die Zahlen zeigen ein Land im politischen Fieber: Die Verrohung schreitet voran, besonders auf der rechten Seite des politischen Spektrums, bei Israelhassern und Antisemiten. Mit den zahlreichen Wahlen und dem Gaza-Krieg gibt es Gründe für diesen Anstieg. Dennoch bleibt als Fazit: Deutschland radikalisiert sich, es wächst die Bereitschaft, Gewalt als Mittel des Meinungsaustauschs einzusetzen.
Der Autor bezweifelt, ob Dobrindts Maßnahmen mit härteren Strafen ausreichend sind, stimmt ihm aber bei der Einschätzung eines AfD-Verbostverfahren zu. Es ist nicht ausgereift – und es dürfte das politische Fieber im Land noch deutlich steigen lassen.

Freitag, 4. April 2025

Meinungsfreiheit: Jetzt rächen sich die Rechten

In der ZEIT kommentiert Paul Middelhoff  die Debatte über Cancel-Culture. Lange Zeit wurde dies Linken unterstellt, doch seit Trump kommt sie von rechts.  

Woke gilt nicht mehr als schick

Manche Diskussionen waren für den Autor befremdlich, so die Debatte, ob eine weiße Autorin über eine mexikanische Protagonistin schreiben darf. Wokeismus war das Ansinnen derjenigen, die eloquent Diskriminierungserfahrung in kommunikative Macht verwandeln konnten. Diese vermeintliche Diskurshoheit ist spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps. Die Rache ist der Rechten bedient sich der selben Mittel, ist aber ungleich mächtiger.

Regierung und Techunternehmer untergraben Meinungsäußerung

Die Trump-Regierung möchte die Nutzung von Begriffen abraten bzw. davon abraten, dazu zählen Sex, Klimakrise oder ureinwohner. Er droht Universitäten mit Geldentzug und Studenten sogar mit Gefängnis, wenn sie sich an „illegalen Demonstrationen“ beteiligen. Schon länger verbieten republikanisch dominierte Staaten Bücher, die ihnen zu kritisch sind.
Amazon-Gründer Jeff Bezos geht noch einen schritt weiter. Er verordnet der Redaktion seiner Zeitung "persönliche Freiheiten" und "freie Märkte" zu verteidigen, abweichende Standpunkte würden nicht mehr veröffentlicht. Er pflanzt seinen Redakteuren ein Frage in den Kopf, die Gift ist für den Journalismus: "Darf ich das schreiben?"

Vizepräsident Vance beklagt fehlende Meinungsfreiheit in Europa

Vor diesem Hintergrund ist der Verwurf von Vizepräsident Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz besonders fragwürdig, dass die Europäer sich vom heiligen amerikanischen Grundrecht auf freedom of speech entfernt haben. Auch wenn es an einzelnen Maßnahmen Kritik geben kann, lässt sich dies nicht mit dem Vorgehen der Amerikaner zu vergleichen: Der linke Wokeismus speiste sich aus Moral, er kam von der Seite, der rechte Wokeismus speist sich aus der Macht, er kommt von ganz oben.

Wer es ernst gemeint hat mit der Verteidigung der Freiheit gegen den linken Moralismus, der sollte sich nun mindestens genauso entschlossen dem rechten Gesinnungsfuror entgegenstellen. Er braucht dafür nur möglicherweise noch mehr Mut.

Dienstag, 18. März 2025

Was man für heute aus den Corona-Jahren lernen kann

Katharina Riehl beschreibt in der Süddeutschen Zeitung, was man aus den Corona-Jahren lernen kann: Nicht jeder Impfgegner war ein Querdenker. Und nicht jeder Pazifist ist ein Putin-Freund

Die Folgen der Pandemie sind bis heute spürbar

Vor fünf Jahren erstickte die Pandemie das öffentliche Leben in Deutschland. Hängen bleiben wird Merkels Satz fünf Tage, nachdem deutschlandweit die Schulen geschlossen wurden: „Die Lage ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Die Folgen sind bis heute spürbar, z.B. die Bildung und Psyche von Kindern, die wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen – die heute versuchen, ihre Mitarbeiter wieder regelmäßig ins Büro zu locken.

Die Pandemie hat das Vertrauen in die Politik beschädigt

Die Pandemie hat ideologische Grabenkämpfe in der Gesellschaft verursacht, die bis heute anhalten. Sie hat zum Erstarken der AfD und dem sinkenden Vertrauen in Politik und Medien beigetragen. War im ersten Jahr steig das Vertrauen, in Zeiten von Unsicherheit rücken Bevölkerung und Staat zusammen. Dann sank das Vertrauen: Der Lockdown wurde zum Symbol eines Staates, der die Rechte seiner Bürger einfach außer Kraft setzt

Aufarbeitung dringend notwendig

Es entstand eine tiefe Spaltung: Ein Teil der Bevölkerung fordert härtere Maßnahmen inklusive einer Impfpflicht, lehnte ein anderer Teil alle Übergriffe mit zunehmender Härte ab. Ein Grund für den Erfolg von Sahra Wagenknecht im Osten ist neben dem Krieg die nicht aufgearbeitete Pandemiepolitik. Hier sieht die Autorin dringenden Nachholbedarf. Dabei muss es auch darum geht, dass die Fehler von damals nicht heute unter anderen Vorzeichen wiederholt werden. Die Regierungsbildung ist aktuell aber im Moment durch die nächste existenzielle Krise geprägt: Donald Trumps Politik und die daraus folgende Forderungen nach mehr Geld für die Aufrüstung.

Damals wie heute darf man nicht einfach alle Zweifler zum Schämen in die Ecke schicken

Als größten Fehler der Pandemiejahre bezeichnet die Autorin, den moralischen Rigorismus, mit dem alle Kritik verteufelt wurde - – auch berechtigte Kritik wie etwa die an den langen Schulschließungen. Es wäre notwendig gewesen, inhaltlich nicht von den Fakten abzuweichen, aber bei der Kommunikation nicht alle Zweifler zum Schämen in die Ecke zu schicken.
Bei der heutigen Debatte treffen die politischen Erzählungen von AfD und Wagenknecht auf fruchtbaren Boden, dass man einfach zu Wladimir Putin etwas netter sein müsse. Diese Gruppe könnte größer werden und überschneidet sich mit den Kritikern der Corona-Maßnahmen. Auch hier dürfen Fakten nicht ignoriert werden, aber: Nicht jeder Impfskeptiker war ein Querdenker und nicht jeder Pazifist ist ein Handlanger des russischen Diktators. Gerade wenn Deutschland aufrüstet, muss es verbal abrüsten.

Freitag, 28. Februar 2025

Die Mitte-Parteien vernachlässigen die Jungen

Karin Janker analysiert in der Süddeutschen Zeitung das Wahlergebnis junger Menschen. Ihr Vorwurf: Die Mitte-Parteien vernachlässigen die Jungen

Politische Vernachlässigung hat ihren Preis

Die Parteien der bürgerlichen Mitte haben ihre Quittung bekommen. Union und SPD dümpeln bei 13 Prozent, die vor vier Jahren führenden FDP und Grüne sind regelrecht abgestürzt. Auf den ersten Blick bleibt die Wirkung begrenzt: 14 Prozent der Wähler waren bei dieser Wahl jünger als 30 Jahre, 40 Prozent älter als 60.

Wer die Jugend übergeht, treibt sie an die Ränder.

27 % für die Linke, 19 % für die AfD – zusammen mit den 6 % BSW-Wählern sind 52 Prozent der jungen Deutschen nach weit außen gedrängt. Das liegt nicht nur an den geschickten Social-Media Strategien. Die Jugend ist politisch interessiert wie kaum eine vor ihnen – sie sind nicht entpolitisiert, sondern politisch emotionalisiert.

Sie sind keine Protestwähler, sie suchen Orientierung

Junge Menschen wollen Veränderungen. Es ist kein neues Phänomen, dass junge Menschen extremer wählen als ältere. Neu ist, dass sich im Wettstreit eine Partei etabliert hat, die die Demokratie angreift und ausgehöhlt. Die Jungen suchen keine Konfrontation mit der Elterngeneration - sie sind keine Protestwähler, sie suchen Orientierung. Bisher haben sie kaum für Aufbegehren gesorgt. Die überalternde Demokratie muss sich aus diesem Dilemma dringend befreien, wenn sie nicht ihre eigene Zukunft verspielen will.

Die Belange von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehören ganz oben auf die Agenda

Es gibt Handlungsbedarf: Jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland ist von Armut gefährdet. Sie sind von den Folgen der Corona-Krise, der Migration und dem Klimawandel am stärksten betroffen und machen sich zurecht Sorgen um die Rente. Nur 23 Prozent blicken zuversichtlich in die Zukunft. Ihre Hoffnung schwindet, dass die Parteien der Mitte die Probleme in den Griff bekommt.

Nicht viel versprochen und geliefert

Die Autorin kritisiert den Vorwurf, dass diese Jugend eine problematische Konsumentenhaltung habe und erwartet, was sie bestellt. Bisher wird ihnen von den Parteien der Mitte weder viel versprochen noch etwas geliefert. Die Anliegen junger Menschen müssen ganz oben auf die Agena, denn „weitere vier Jahre der Vernachlässigung könnten desaströs enden.

Mittwoch, 8. Januar 2025

Zuckerbergs Richtungswechsel: Weiter wie gehabt ist auch keine Option

Sascha Lobo schreibt im SPIEGEL über Mark Zuckerbergs Richtungswechsel: Weiter wie gehabt ist auch keine Option.

Die sozialen Medien sind kaputt

Mark Zuckerbergs Abschied vom Faktencheck und Hinwendung zur freien Meinungsäußerung hat viel Kritik nach sich gezogen. Ihm wurde vorgeworfen, sich Trump anzunähern. Für Lobo sind die sozialen Medien ohnehin dysfunktional. Um den Problemen wie Hassrede und Propaganda zu bewältigen brauche man neue Wege.

Plattformen als Schiedsrichter der Wahrheit

Eine der Begründungen von Zuckerberg war, dass die bisherigen Filtersysteme nicht besonders gut funktionieren. Auch viele Netzaktivisten hatten dies unter dem Vorwurf des Overblockings eingebracht. Lobo wundert sich, dass diese nun kritisieren, dass die Filter abgeschafft werden.
Zuckerberg sagte in seiner Rede, dass soziale Medien nicht Schiedsrichter der Wahrheiten sein sollten. Faktisch sind Plattformen aber dazu geworden, da von staatlicher Seite oft eine Wahrheit gefunden werden musste – schon aufgrund der drohenden hohen Strafen.

Meinungsfreiheit für Trumps Gegner?

Lobo fragt, ob Zuckerbergs Beharren auf Meinungsfreiheit für Trumps Gegner noch wichtig sein könnte. Er vermutet aber, dass sich Zuckerberg Verschiebung eher damit zu tun hat, dass Trump Lüge als politischen Instrument nutzen. Seine Einlassung, dass Trump gegen Zensur kämpft, bezeichnet er als Unfug. „Niemand wird begeisterter zensieren als die Trump-Regierung.
An der Dysfunktionalität der bisherigen Systeme ändert das allerdings wenig, denn die haben mehr schlecht als recht versucht, die gröbsten Desinformationen irgendwie zu unterbinden – und sind massiv gescheitert.

Enorm erfolgloser Kampf gegen Hass

Auch in Deutschland war der Kampf nicht erfolgreich. Besonders nach dem 7. Oktober 2023 haben sich eine unfassbare Zahl und Qualität von Menschenfeindlichkeit gegeben. Auch wenn die neue  Herangehensweise an Trump orientiert ist, wird das alte System nicht plötzlich großartig. Lobo fordert, dass man Zuckerbergs Vorgehen von den tatsächlichen Probleme trennt. Er bezweifelt, dass die neue Herangehensweise besser funktioniert. „Nur ganz so Elon-Musk-haft einfach, wie es gerade oft dargestellt wird, ist es eben auch nicht.“