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Donnerstag, 19. Dezember 2024

Verluste sind das schmutzige Geheimnis des Fortschritts

In einem Interview im SPIEGEL stellt Andreas Reckwitz sein neues Buch „Verlust“ vor.
Reckwitz ist einer der einflussreichsten Soziologen. In seinem Werk „Die Gesellschaft der Singularität“ beschreibt er den Aufstieg einer neuen Mittelklasse, meist urban lebende, kreativ arbeitende, kosmopolitische Akademiker, die die alte Mittelklasse der Handwerker und Facharbeiter mitsamt ihrer Werte und Lebensentwürfe zurückdränge.

Verlust des Fortschrittsnarrativ

Die Zeit nach dem Mauerfall war vom Fortschrittsoptimismus geprägt: der Glaube an die Globalisierung, die Vernetzung, die gesellschaftliche Liberalisierung, die Wissensgesellschaft. Probleme wie den Klimawandel oder Deindustrialisierung gab es schon damals, die Verluste waren aber nicht so im Fokus.

Verlust als Grundproblem der Moderne

Für Reckwitz ist Verlust mit Verschwinden und negativen Emotionen verbunden: Trauer, Wut, Angst. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens, welche Verluste zu beklagen sind. Manchen trauern um ihre Privilegien oder wenden sich lautstark gegen Veränderungen. Verlust ist für Reckwitz ein Grundproblem der Moderne, da das Alte permanent durch Neues abgelöst wird. Bisher konnten Verluste relativiert waren, sie waren „das schmutzige Geheimnis des Fortschritts.“

Die Zukunft ist keine Verheißung mehr

Dieser Ausgleich wird in Zukunft nicht mehr funktionieren. Kaum jemand glaubt mehr, dass es den eigenen Kindern in 20 Jahren besser gehen wird. Auch klimawissenschaftliche Szenarien prognostizieren eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Bereits 1985 sprach Jürgen Habermas von der „Erschöpfung utopischer Energie“ – rückblickend waren die 90er Jahre eher die Ausnahme in einer „Verlust-Eskalation“.

Westliche Moderne ist an einer Grenze angekommen

Die Fortschrittserwartung war wie eine Decke, die Verlust verhüllt. Wird die Decke weggezogen, kommen Verluste zum Vorschein. An die Grenze ist die Moderne auch bei der Natur gekommen wie der Klimawandel zeigt. Verlierer artikulieren sich heute deutlicher, d.h. viele Kontroversen drehen sich nun um Verluste. Man will nicht ein größeren Stück des Kuchens, sondern die Anerkennung von Verlusten – Opfer fordern Sichtbarkeit.

Individuen hoffen auf persönliche Erfüllung

Kollektive Utopien haben an Glaubwürdigkeit verloren, dafür hoffen einzelne Individuen auf Verbesserung. Während sie für die Gesellschaft pessimistisch sind, sehen viele Menschen ihre Zukunft optimistisch. Es geht nicht mehr darum, zu gewinnen, sondern nicht so drastisch zu verlieren. Eine alternde Gesellschaft wird zwangsläufig verlustaffiner.

Populismus ist Verlustunternehmertum

Für die Politik ist dies eine Herausforderung, denn sie ist vom Fortschrittsversprechen geprägt. Gewinner sind Populisten, die bei Menschen gut ankommen, die Status- oder Machtverluste erfahren haben oder befürchten. Diese Erfahrungen sollte man ernst nehmen- Das Ende des Patriarchats bedeutet für viele Männer einen – manche würden sagen: überfälligen – Machtverlust. Die Politik sollte diese Verluste anerkennen und offen sprechen, zum Beispiel über irreversible Klimaschäden oder die Erschütterung der globalen Sicherheitsarchitektur,

Einen Umgang mit Negativereignissen finden

Gesellschaften müssen resilienter werden und mit Negativereignissen umgehen können – sie vermeiden oder sie abzumildern. Beispiele sind ein besserer Umgang mit der nächsten Pandemie und dem Klimawandel. „Eine Gesellschaft, die Verluste nicht von sich abspaltet, wäre selbst eine bessere.“

Errungenschaften der Moderne bewahren

Für Reckwitz geht es darum, die Errungenschaften der Moderne zu bewahren. Er zeichnet verschiedene Szenarien auf: Die Hoffnung durch Fortschritt den Klimawandel technisch in den Griff zu bekommen, sodass die Modernisierungsverlierer und damit die Populisten aussterben. Denkbar wäre aber auch das andere Extrem - der Kollaps der Moderne.
Das dritte Szenario bezeichnet Reckwitz als „erwachsene Moderne“. Er verliert Lebensideale, aber erwirbt Verlustkompetenz. Für Reckwitz war auch die Beschäftigung mit dem Thema überwiegend positiv: Sie lässt die Probleme, unter denen man leidet, nicht verschwinden – aber man kann sie besser handhaben.

Mittwoch, 4. Dezember 2024

Die „nüchterne alte Tante“ Soziologie ist wieder gefragt

Alexander Cammann rezensiert in der ZEIT das neue Buch von Andreas Reckwitz. Dabei geht er auch auf die Bedeutung der Soziologie ein, die so gefragt ist, wie lange nicht.

Soziologen waren lange nicht gefragt

Wenn es um die Erklärung des Mauerfalls von 1989 oder den 11. September ging, waren lange Zeit Historiker oder Philosophen gefragt. Für manche galten die Lifesciences als neue Leitwissenschaft, schließlich hatten die das menschliche Genom sequenziert. Nun ist sie wieder zurück „die nüchterne alte Tante“ Soziologie.

Kommentare zur jeweiligen Gegenwart

Nun sind sie zurück: Jutta Allmendinger und Heinz Bode haben jahrelang die Öffentlichkeitsarbeit übernommen. Nun sind andere Soziolog*innen in aller Munde: Steffen Mau aus Berlin, Hartmut Rosa aus Jena, Paula-Irene Villa Braslavsky und Armin Nassehi aus München, Oliver Nachtwey aus Basel, Jens Beckert aus Köln, dazu häufig noch Eva Illouz. Sogar Olaf Scholz soll ihnen manchmal zuhören, wenn sie „virtuos eine der vornehmsten Aufgabe der Soziologie übernehmen – die Zeitdiagnostik.

Wegweisendes Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“

Bereits 2017 hat Andreas Reckwitz ein preisgekröntes Buch vorgelegt: Die Gesellschaft der Singularitäten. Die damaligen Diagnosen passen verblüffend gut,
ob es um Neogemeinschaften geht, die alte Organisationsformen ablösten (man denke an BSW und AfD), ob um die kulturellen Spaltungen der westlichen Gesellschaft, jenseits der alten Klassenkonflikte, die sich bei Wahlen niederschlagen. Ebenso passend ist die Beschreibung, dass anstelle allgemeiner anerkannter Normen und Zugehörigkeit viele „Singularitäten getreten sind.

Überall Modernisierungsverlierer

In seinem neuen Buch beschreibt Reckwitz die Verluste der Moderne: Klimakatastrophe, Artensterben, Modernisierungsverlierer – und der Populismus, der als „Verlustunternehmer“ davon.
Der Fortschrittimperativ westlicher Gesellschaften brachte stetige Verbesserungen. Sie konnten auch frühere Verluste immer wieder ausgleichen.

Progressive werden strukturkonservativ

Reckwitz beschreibt verschiedene Bereiche in der Spannung zwischen Fortschritt und Verlust und beschreibt eine interessante Änderung in der Politik. Progressive werden „strukturell konservativ“: die Linken in der Verteidigung des Sozialstaats, die Linksliberalen bei den vom Rechtspopulismus bedrohten Freiheitsrechten. "Nirgendwo ist die Fortschrittsorientierung noch ungebrochen" – und konservativ ist mal wieder komplizierter als gedacht.

Neues Thema in meinem Seminarangebot

In meinem Seminarangeboten zur Gesellschaft habe ich das Thema „Soziologen sind wieder gefragt“ aufgenommen. Dabei werde ich die Bedeutung und Werke von Andreas Reckwitz und anderer Soziologen vorstellen.

Freitag, 22. November 2024

Soziale Medien verbieten schützt die Jugend nicht

Anna Lea Jakobs argumentiert in der Süddeutschen Zeitung, dass Verbote von sozialer Medien keine Lösung sind.

Verbote sind nicht die richtige Antwort

Australien hat Jugendlichen unter 16jährigen die Nutzung sozialer Medien verboten. Begründet wird dies mit der Sorge um die Sicherheit und psychischen Gesundheit. Auch andere Länder planen Verbote. Die Autorin kritisiert dies, denn die Medien verbieten unter 13-jährigen ohnehin die Nutzung. Mit dieser Regelung schließt 13- bis 15-Jährige von wichtigen sozialen Interaktionen ausschließt.

Verbot ein tiefer Einschnitt in die Autonomie junger Menschen 

Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen sind komplex und auf eine Vielzahl an Faktoren zurückzuführen. Dass die sozialen Medien eine Epidemie mentaler Krankheiten verursachen, lasse sich nicht nachweisen. Ein Verbot, das einen tiefen Einschnitt in die Autonomie eines jungen Menschen bedeutet, ist daraus kaum zu rechtfertigen. Die richtige Forderung wäre deshalb: Eine moderate Nutzung ist sinnvoll, eine zu hohe aber nicht – und gar keine auch nicht. Möglicherweise würden sie „verdeckte und nicht regulierte Onlineräume“ gedrängt würden. Diese könnte man dann vermutlich noch schwerer regulieren.

Bildung und Aufklärung für eine angemessene Nutzung

Die richtige Lösung sieht die Autorin in besserer Kontrolle der Plattformen und in der Aufklärung: Jugendliche und ihre Eltern sollten wissen, wie man mit Meiden umgehen. Es ist die große Versuchung der Erwachsenen, der Jugend etwas zu verbieten. Das war schon immer so. Und es ist wiederum genauso eine Tatsache, dass die Jugend immer kreative Wege finden wird, um diese zu umgehen.

Freitag, 18. Oktober 2024

Optimismus in der Jugend: Uns geht es besser, als ihr denkt!

Rudi Novotny analysiert in der ZEIT die aktuelle Shell-Studie. Die umfassende Studie, bei der 12.25jährige befragt wurden, kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Nicht verunsichert, sondern optimistisch. Nicht misstrauisch, sondern voller Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen.

Nicht extremistisch, sondern pragmatisch und tolerant.

Rund ¾ der jungen Menschen sind mit der Demokratie zufrieden, glauben, dass Deutschland ihnen die Chancen bietet, ihre Ziele und Träume zu verwirklichen. Es sind Zahlen, die fast unwirklich erscheinen. Steigender jugendlicher Optimismus trotz Corona, trotz Ukrainekrieg, trotz Migrationskrise. Trotz des offensichtlichen Versagens stehen die Jungen zum Staat, trotz TikTok vertrauen 83 Prozent dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Treue Musterbürger, die allen Turbulenzen trotzen

Junge Menschen haben Werte, die an einen Musterbürger erinnern: Ihnen sind gute Beziehungen zu Familie und Freunden wichtig, sie setzen auf Eigenverantwortung. Die Jugend ist so politisiert wir 1991 nicht mehr, viele jungen Männer rutschen nach rechts, Frauen nach Links. Die Angst vor dem Klimawandel bleibt hoch, wurde aber nun vor der Angst vor Krieg überholt.

Nie waren die Jungen weniger

Der Anteil der Jungen in der Bevölkerung sinkt: Ende 2021 hierzulande gerade mal 8,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Zehn Prozent der Bevölkerung. Nie waren die Jungen weniger. Man kann die Jugend gut ignorieren.
Dazu zählen die Etiketten "Kaum belastbar, aber hohe Ansprüche", die sich in untersuchen nicht halten lassen. Die Kritik an der Jugend ist eine Projektion. "Man kritisiert die Jugend, aber meint die Fehlentwicklungen in der Erwachsenenwelt."

"Bezieht uns ein, und packt die Probleme an!"

Einige der Ergebnisse zeigen auch Frust: Rund die Hälfte sehen in staatlichen Maßnahmen keine Vorteile und fühlen sich ignoriert. Die Kritik ist scharf, wirkt an manchen Stellen insbesondere gegenüber den handelnden politischen Akteuren unversöhnlich und ist häufig von populistischen Elementen getragen." Studienleiter Albert sagt dazu: "Die Jugendlichen nehmen sehr sensibel wahr, wenn ihre Belange nicht berücksichtigt werden."
Viele Kritikpunkte sind nachvollziehbar: Während Corona wurden die Orte der Jungen als erstes geschlossen, das 1,5 Grad-Ziel ist in weiter Ferne, der Glaube in die Rente ist gering. Noch ist es keine Systemfrage, die Botschaft ist aber klar: „bezieht uns ein, und packt die Probleme an!"

Geld, Zeit und Engagement

Damit die Jungen an politischen Entscheidungen beteiligt werden und verstehen, wie Politik funktioniert. Forscher fordern mehr politische Bildung im Lehrplan und Geld für Vereine und Institutionen, in denen sich Jugendliche persönlich entwickeln können. Scharf kritisieren sie, dass die Bundesregierung weniger Geld für die Freiwilligendienste geben will. Stattdessen wird über einen Pflichtdienst geredet – der Vorschlag kam vom heute 68jährigen Bundespräsident.

Weiter Informationen

Interview zur Shell-Studie in der Tagesshau:  "Ein gewisses Grundvertrauen in die Gesellschaft"
Leben in Deutschland: Junge Deutsche blicken positiv in die Zukunft
Shell-Studie: Sehr besorgt, aber pragmatisch und optimistisch |

Freitag, 27. September 2024

Wie Corona die Debattenkultur der Deutschen verändert hat

Die Spaltung der Gesellschaft wird von vielen Seiten beklagt: In der Süddeutschen Zeitung fragt Rainer Stadler, ob dies eine Spätfolge der Corona-Pandemie ist.

Armin Laschet arbeitet an einem Buch über die Streitkultur. Er kritisiert, dass bei vielen Themen nicht diskutiert, sondern sofort die moralische Keule hervorgeholt wird. Er nimmt sogar Sahra Wagenknecht in Schutz, deren Ansicht er zwar nicht teil, deren Recht ihre Meinung kundzutun er aber verteidigt.

Je weiter die Pandemie zurückliegt, umso klarer werden die Spuren

Laschets Befund ist nicht neu. Corona hat Spuren hinterlassen, dass wir immer klarer. In der Vergangenheit zeigte sich bei schweren Krisen, dass die Menschen zusammenrücken. Auch in der Corona-Krise war das Vertrauen in Politik, Polizei und Medien zunächst groß. Doch schnell verpuffte dieser Effekt, die Zustimmung war schnell geringer als vor der Krise. Die Menschen waren von der permanenten Krisenberichterstattung überfordert, der Frust über die Regeln stieg, da die Fallzahlen weiter stiegen.

Vertrauen hat weiter abgenommen

Das Vertrauen hat weiter abgenommen, besonders bei jüngeren Menschen in Ostdeutschland. Studienleiterin Zoch vermutet, dass dies auf die besondere Betroffenheit bei Kita- und Schulschließung zurückzuführen ist. Eine weitere Rolle könnte spielen, dass diese Generation in der Jugend erlebt hat, wie ein übermächtiger Staat ihre Eltern erdrückte. Womöglich hätten einige befürchtet, dass ihnen in der Pandemie ein ähnliches Schicksal drohte.

Psychologen hatten früh vor Schäden bei Kindern gewarnt

Psychologen hatten gewarnt. Laschet war während der Pandemie Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und berichtet über die heftigen Debatten und die Vorwürfe des „Team Vorsicht“. Es ging auch darum, welchen der Virologen man mehr vertraute. Ähnlich kritisch sah er die pauschale Abwertung der Corona-Demos, durch Politik und Medien – als Sammelbecken rechter Schwurbler, da dadurch auch berechtigte Anliegen von Teilnehmern diskreditiert worden.

Konträre Meinungen erlaubt, aber nicht erwünscht

Eine weitere Kritik von Laschet und Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung“ ist die Stigmatisierung von ungeimpften. Zwar sind tatsächlich viele Ungeimpfte in Intensivstationen gelegen, dennoch haben auch sie Grundrechte. Wer dies öffentlich forderte, bekam schnell Probleme. Was der Philosophin in der Talkrunde widerfuhr, war ein Signal an andere, die Corona-Maßnahmen kritisch sahen: Konträre Meinungen sind vielleicht erlaubt, erwünscht sind sie nicht. Diese Erfahrung nachten viele, nach Umfragen haben 2/3 der Menschen Kontakte eingebüßt – nicht zuletzt wegen Meinungsverschiedenheiten zur Corona-Politik.

Wunden werden nicht heilen

Ein Forscherteam ist skeptisch, ob die Wunden heilen. Ungeimpfte neigen noch immer dazu die Gefahren zu unterschätzen. Manchen haben den Wunsch „Politik und Wissenschaft für ihr Handeln in der Pandemie zu bestrafen und die politische Ordnung zu zerschlagen“. Geimpfte überschätzten im Nachhinein die Gefahr durch das Virus. Sie sind damit auch weniger bereit zu einer kritischen Auseinandersetzung darüber, wo die Pandemiepolitik eventuell doch aus dem Ruder lief.

Vergangenheitsbewältigung und Lehren für die Zukunft

Umso wichtiger wäre eine unabhängige Aufarbeitung der Corona-Politik. Es geht um Vergangenheitsbewältigung, aber auch um Lehren für die Zukunft. Man habe zu sehr auf kurzfriste Effekte gesetzt, wichtig sei auch langfristige Folgen für den sozialen Zusammenhalt“ zu berücksichtigen.
Auch das Vertrauen in die mediale Öffentlichkeit ging verloren, Die Philosophin Flaßpöhler hofft auf ein neues Bewusstsein, „wie wir heute Debatten führen“. Menschen würden ausgeschlossen, Meinungen schon im Voraus mit dem Etikett „unvernünftig“ versehen und aussortiert. „Das ist einer Demokratie nicht gemäß, so funktioniert der offene Diskurs nicht.“

Freitag, 20. September 2024

Verroht die Gesellschaft wirklich immer mehr?

Der SPIEGEL fragt angesichts von Messerattacken, Beleidigungen und Cybermobbing: Verroht die Gesellschaft wirklich immer mehr?

„Verrohung“- gab es auch früher

Der Artikel beginnt mit der Beschreibung von wütenden Bürger, die sich über „Gammler“ aufregen – im Jahr 1967. Eine Verrohung kann man der Gesellschaft nicht vorwerfen – sie war seit etlichen Jahren bereits so.
Zwischen 1991 und 1993 wurden in Deutschland an diversen Orten Flüchtlingsunterkünfte attackiert. Menschen verbrannten. Und 1996 fragte der SPIEGEL, ob die Gesellschaft verroht.
Ein Blick in die 1930er zeigt noch mehr Gewalt – und führte in die Grausamkeit des 2. Weltkriegs.

»99,8 Prozent aller Menschen sind wertschätzend, respektvoll und verhalten sich anständig«,

Dieter Frey, Professor für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ist überzeugt, dass die Welt viel positiver ist als es in den Medien rüberkommt und die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen sich wertschätzend verhält.
Unser Gehirn sorgt mit einem alarmistischen Grundzustand für den Eindruck, dass das Negative überwiegt. Über die Vergangenheit liegt ein farbiger Filter – auch das ein Selbstschutz, damit das Gewesene nicht zu einem Mühlstein um den Hals wird.

Problematischer Begriff Verrohrung

Auch Konstanze Marx-Wischnowski hält den Begriff Verrohung für problematisch. Ihr Forschungsgebiet – Gewalt in der digitalen kommunikation – zeigt jedoch üble Auswüchse in sozialen Medien. Dennoch betont sie: Beleidigungen, Schmähreden und übelste Verunglimpfungen hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Neu ist die „Vergemeinschaftung der Gewalt“ – der Wunsch sich gegenseitig mit enthemmtem Verhalten zu überbieten.

Awareness und Sensibilität haben zugenommen

Angestiegen ist auch die Awereness, das Bewusstsein dafür, dass eine Situation nicht okay ist, oder sogar aus dem Ruder läuft und Eingreifen erfordert. Sie führt auch dazu, dass viele Verrohung erst erkannt werden. Auch deshalb gibt es eine gefühlt höhere Verrohung: heute gilt vieles als Verrohung, was früher als normal empfunden worden wäre. Neben denen die Krawall schlagen, gibt es auch Menschen die engagiert dagegenreden. Auch die Sensibilität hat zugenommen, stellt die Forscherin fest. So warnt sie ihre Studenten vor den Vorlesungen über die Inhalte.

Samstag, 24. August 2024

Was heißt hier Fortschritt?

In der ZEIT beschäftigt sich der bekannte Soziologe Andreas Reckwitz mit der Frage, was Fortschritt bedeutet.

Fortschritt beliebter und unklarer Begriff

Die Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberale wollte eine Fortschrittskoalition sein und hatte hoch gesteckte Ziele: ökologisch-wirtschaftliche Modernisierung, gesellschaftspolitische Öffnung, sozialpolitische Neujustierung. Nach Streit und Krisen stellt sich aber nicht nur für die Regierung die Frage: Was kann Fortschritt als Ziel der Politik im 21. Jahrhundert bedeuten?

Westliche Demokratien und Fortschritt miteinander verwoben

Es wird regelmäßig gestritten, um welchen Fortschritt es gehen soll – mehr Freiheit oder mehr Gleichheit, mehr Wohlstand oder mehr Technologie, mehr Staat oder mehr Markt –die Hoffnung auf Fortschritt ist für westliche Demokratien entscheidend. Den Höhepunkt des Fortschrittsoptimismus gab es nach dem 2. Weltkrieg: Wirtschaftswachstum, sozialer Aufstieg breiter Schichten, technologische Innovationen und Aufbau des Sozialstaates. Nach dem Mauerfall folgten mit Globalisierung und Digitalisierung ein weiterer Schub.

Nüchternes Verständnis von Fortschritt notwendig

Die aktuellen Krisen haben die Hoffnung auf das Vertrauen nachhaltig beschädigt. Wenn die positiven Zukunftserwartungen schrumpfen, die Politik jedoch weiterhin Fortschrittsgewissheit predigt, wird das politische Vertrauen weiter schwinden. Allerdings sollte die Fortschrittsorientierung nicht aufgegeben werden, sondern durch ein revidierten, nüchternes Fortschrittsverständnis ersetzt werden.

Vier Aspekte für sind dabei wichtig:

Hoffnung auf automatische Entwicklung zum Besseren aufgeben

Die Hoffnung auf eine automatische Entwicklung zum Besseren sollte aufgegeben werden. Die realistische Einschätzung kann zur einer umsichtigeren und wachsameren Haltung gegenüber Risiken führen. Fortschritt ist möglich, aber er bleibt prekär.

Resilienz steigern

Liberale Demokratien sind verletzlich. Deshalb ist es wichtig die Resilienz zu steigern. Dies bedeutet Institutionen, Lebensformen und ihre Qualitäten so zu sichern, dass sie gegen negative Ereignisse abgepuffert werden. Ein Beispiel wäre eine aktive Klimapolitik als ein Projekt ökologischer Resilienz verstehen

Mit Verlusten umgehen lernen

Eine Gesellschaft muss lernen mit Verlusten umzugehen. Verluste können einzelne soziale Gruppen als auch die ganze Gesellschaft betreffen: Der Klimawandel bedeutet einen Wohlstandsverlust für alle. Ein kluger gesellschaftlicher Umgang mit Verlusten müsste verhindern, dass diese in endlose Auseinandersetzungen zwischen Verlierern und Gewinnern, zwischen Opfern und Tätern münden.
Der Populismus beutet die Verlusterfahrungen aus – die etablierte Politik sollte diese Erfahrungen offen verhandeln: - dies wäre ein besonderer Fortschritt: eine Gesellschaft, die an Reife gewinnt und erwachsen wird, indem sie manchen Verlusten offen ins Gesicht sieht und (trotzdem) mit ihnen weiterlebt.

Fortschritt auch in der Vergangenheit suchen

Man sollte in die Vergangenheit blicken: vieles von dem Erreichten ist bewahrenswert und zugleich in Gefahr: Eine funktionierende liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, eine vom Mittelstand geprägte erfolgreiche Wirtschaft.

Fortschrittlich sein heißt Fortschrittserbe zu schützen

Die Schlussfolgerung lautet für Reckwitz deshalb, dass auch die Progressiven die Vergangenheit bewahren müssen, wie man es aus der Vergangenheit von den Konservativen kannte. Dabei geht es nicht um ein vormodernes Erbe, sondern um den Erhalt von Fortschritten der Vergangenheit: Fortschrittlich sein heißt heute also auch, das zerbrechliche Fortschrittserbe zu schützen und weiterzuentwickeln.

Dienstag, 13. August 2024

Debattenkultur – nicht nur über Gewinner und Verlierer reden

Andreas Reckwitz schreibt im SPIEGEL über die Debattenkultur in Deutschland: Warum der Fokus auf Gewinner und Verlierer eine Gefahr ist

Das „Wir“ als prekäre Größe

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seinem Buch „Wir“ kritisiert, dass der politisch-kulturelle Grundkonsens in Gefahr ist. Reckwitz betont, dass dies „Wir“ schon immer eine prekäre Größe war, da wir keine homogenen Gesellschaften mehr haben. Sie sind durch einen grundsätzlichen Pluralismus geprägt, in dem durch Institutionen zivilisiert werden.

Spätmoderne Gesellschaft wird zur Kampfzone

In der Gegenwart wird die Gesellschaft zur Kampfzone. Im politischen Raum sehen sich westliche Gesellschaften einer rechtspopulistischen Welle ausgesetzt, die auch im digitalen Raum zunehmen zu aggressiven Auseinandersetzungen führt. Die tieferliegende Entwicklung hinter dieser Entwicklung sind „endlose Konflikte zwischen Gewinnern und Verlierern sowie zwischen Tätern und Opfern“- Ständig stellt sich die Frage, wer zu welcher Gruppe gehört.

Ende der industriellen Gesellschaft

Eine gesellschaftliche Ursache ist das Ende der industriellen Gesellschaft mit dem Wandel der Erwerbsstruktur zur postindustriellen Gesellschaft. Viele industrielle Arbeitsplätze sind verschwunden, etwa drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten mittlerweile im Dienstleistungsbereich. Dieser ist sehr unterschiedlich und reicht von einfachen Dienstleistungen zur Wissensökonomie gut qualifizierter Hochschulabsolventen. Dies bewirkt auch eine sozialräumliche Asymmetrie zwischen florierenden Metropolregionen und urbanen Regionen, die von der Deindustrialisierung betroffen sind.

Aufwärts- und Abwärtsdynamiken und permanentes Sichvergleichen

Die postindustrielle Gesellschaft enthält gleichzeitig verlaufende Aufwärts- und Abwärtsdynamiken. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Ökonomisierung des Sozialen. Die Logik des Wettbewerbs und der Konkurrenz führte unter anderem zu immer größeren Unterschieden bei der Bildung und auf dem Wohnungsmarkt. Die ungleiche Verteilung von Erbschaften trägt zusätzlich zur spätmodernen Gewinner-Verlierer-Dynamik bei.
Ein wichtiger Aspekt ist hier die relative Deprivation: Menschen können sich auch als Verlierer wahrnehmen, wenn sie nur im Vergleich zu anderen zurückfalle: Man scheint selbst auf der Stelle zu treten, während andere – Hochschulabsolventen, erfolgreiche Frauen, Migranten – in der sozialen Hierarchie an einem scheinbar vorbeiziehen. Dieses ständige Sichvergleichen wird durch die Allgegenwart digitaler Medien geschürt. Bilder von Urlaubsorten, Restaurantbesuchen und opulenten Häusern schürt den Groll jener, die sich als zu kurz gekommen wahrnehmen.

Gewinner-Verlierer-Konstellationen in vielen Bereichen

Die Gewinner-Verlierer-Konstellation bekommt besondere Brisanz in Märkten, in denen sich der Ertrag auf wenige konzentriert. Beispiele sind hier wenige Professuren bei vielen Nachwuchswissenschaftler, Immobilienmärkte oder die Aufmerksamkeit: Man lebt in einer Gesellschaft permanenter Wettkämpfe, und wer dabei erfolgreich ist, hängt nicht unbedingt von der eigenen Leistung ab.
Die Frage „Wer gewinnt, wer verliert?“ stellt sich auch zwischen Generationen (Muss die Generation Z den Boomern eine Rente zahlen) und im Geschlechterverhältnis: Sind nun die Jungen die Verlierer oder weiterhin die Frauen aufgrund der Doppelbelastung von Beruf und Familie.

Aus Gewinnern-Verlierer werden Täter-Opfer

Aus dieser Gewinner-Verlierer-Konstellation entsteht ein neues Deutungsmuster zwischen Tätern und Opfern – einem Konflikt „wir gegen die“. Im 20. Jahrhundert gab es viele Opfer durch Kriege oder Verbrechen. Diese Opfer mussten sich die Sichtbarkeit erkämpfen: Opfer des Holocaust, von sexuellen Übergriffen. Bewegungen wie #MeToo haben zu einer Ermächtigung von Opfern geführt: Opfer ist hier keine negative Kategorie mehr, sondern Personen, die ihre Rechte einfordert – gegenüber der Öffentlichkeit und den Tätern. Diese Unterscheidung schafft im Wettbewerb um Aufmerksamkeit eindeutige Verhältnisse.

Opfermythos im Rechtspopulismus

Eva Illouz beschreibt diesen Opfermythos als Element des Rechtspopulismus. Erschien man vorher als ein Verlierer im Modernisierungsprozess, kann man sich nun als ungerechtfertigtes Opfer interpretieren. Die anderen „liberalen Kosmopoliten“ sind schuld an einem unfairen Spiel. De Täter-Opfer-Zuschreibung findet auch in analogen und digitalen Meiden statt. Auch Prominente werden oft als vermeintliche Opfer oder Täter an den Pranger gestellt.

Deutungskonflikt um den Opferstatus

Bei politischen Themen zeigt sich der Deutungskonflikt beim Israel-Palästina nach dem 7. Oktober. Ist Israel Täter, da sie für die Vertreibung verantwortlich sind oder – seit Jahrhunderten – historisches Opfer? Die Zuordnungen sind hochgradig umstritten, typisch aber ist, dass die Täter-Opfer-Unterscheidung eindeutige Verhältnisse suggeriert und differenziertere Betrachtungsweisen hemmt.

Täter-Opfer-Denken als verführerischer Dualismus

Das Denken in Täter-Opfer schafft vermeintlich klare Verhältnisse. Das gesellschaftliche Wir gerät dadurch aber weiter in Bedrängnis, wenn es nun um Täter und Opfer geht. Diesen Prozess gilt es zu entzerren. Reckwitz ist skeptisch. Falls dies nicht gelingt, ist das Risiko groß, dass sich die gesellschaftliche Kampfzone weiter ausdehnt.

Freitag, 19. Juli 2024

Bildung schützt vor Dummheit nicht

In einem Beitrag im Focus rechnet der Neurowissenschaftler Henning Beck mit der Elite ab. Sie sind gefährlicher als Stammtische.

Die größten Starrköpfe findet man unter Akademikern

Ob an Berliner Unis oder in Kulturkämpfen in den USA (für Gendergerechtigkeit, für die Freiheit Palästinas oder Klimagerechtigkeit), die in den USA ausgetragen werden: Intolerante Protestformen richten massiv Schaden an. Die Zahl der Diskreditierungen und des Ausgrenzens nimmt massiv zu. Das Problem ist nicht der politische Inhalt des Protestes, sondern die Art wie er ausgetragen wird.

Herausforderungen der Debattenkultur

Eigentlich würde man von wissenschaftlich gebildeten Menschen einen zivilisierteren Umgang erwarten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die politisch intolerantesten Menschen finden Sie unter gut gebildeten Stadtbewohnern. Studien zeigen, dass Menschen mit zunehmendem Bildungsgrad politisch intoleranter und radikaler.

Bildung schützt nicht vor Radikalität

Bei vielen kontroversen Themen gibt es Gutgebildete. Sie sind schwer zu überzeugen und besonders radikal. Ein Grund: Je länger und besser Menschen mit wissenschaftlichen Fakten und argumentativen Techniken geschult werden, desto intensiver werden sich diese Menschen ihr eigenes Weltbild aufbauen.

Politische Voreingenommenheit

So führt Bildung zu Dogmatismus. Auch vermeintlich neutral Faktencheck helfen hier meistens nicht. Mit sauberen Fakten und analytischen Begründungen wird man nur wenige überzeugen. Gerade dann, wenn man ebenfalls mit Fakten und analytischen Begründungen geschult wurde.

Enttäuschung der Bildungshoffnungen

Der Autor bezeichnet es als Ironie, dass wir gehofft haben, Menschen durch Bildung offener und toleranter zu machen. Wir müssen nun feststellen: Wichtiger als eine selbstkritische Reflexion der eigenen Meinung ist der Schutz der eigenen Identität. Es wäre eine Tragödie, wenn wir wieder ein Zeitalter der wechselseitigen Intoleranz betreten.

Bescheidenheit vs. Selbstbewusstsein

Bildung muss mehr sein als ein Vermitteln von Informationen. Wissenschaft muss nach Widersprüchen suchen und Fakten in den Mittelpunkt stellen. Gute Wissenschaftler werden mit zunehmendem Wissen bescheidener, andere immer selbstbewusster. In unser Debattenkultur zählt immer mehr die plakative und robuste Schlagzeile.

Die Suche nach Bestätigung

Bei vielen Talkshows weiß man, wie sie endet - Schauen wir solche Sendungen nicht deswegen, weil man sich in seinen Ansichten bestärken will? Und liest man diesen Artikel nicht auch deswegen, weil man hofft, in seiner Position bestätigt zu werden?
Der Autor sieht darin eine Gefahr und fordert die Fähigkeit der Denkoffenheit und der Suche nach Widersprüchen im eigenen Denken zu schulen. Genau das war in der Wissenschaft immer der beste Weg. So wie mir mein Chemielehrer sagte: „Egal was du denkst, forschst oder tust – die Natur hat immer recht. Nicht du.“

Hat der Autor recht?

Der Autor gesteht ein, dass er falsch liegen könnte: „Wenn mir jemand ein besseres Argument vorlegen kann, werde ich versuchen, meine Meinung zu ändern. Ob mir das gelingt, kann ich aber noch nicht sagen. Es ist schließlich außerordentlich schwer.

Donnerstag, 11. Juli 2024

Ost-West-Unterschiede: Eine Phantomgrenze durchzieht das Land

Der Soziologe Steffen Mau beschreibt im SPIEGEL eine Phantomgrenze, die Ost und West immer noch teilt.

Gute Entwicklung in vielen Bereichen

Bei vielen statistischen Kennzahlen hat sich der Osten recht gut entwickelt: Die Arbeitslosigkeit ist niedriger geworden, die Renten sind angeglichen. Private und öffentliche Investitionen könnten dafür sorgen, dass sich auch die Produktivitätslücke schließt.
Dennoch sehen einige eine neue Entfremdung, die auf hartnäckige Unterschiede zurückzuführen ist.

Eine Phantomgrenze durch zieht das Land

Der Autor listet eine ganze Reihe von Bereichen auf, in denen es große Unterschiede gibt: Kirchenbindung, Vereinsdichte, Vertrauen in Institutionen und Parteien oder den Anteil an jungen Menschen bzw. Menschen mit Migrationsbiographie.
Große Unterschiede gibt es auch im Bereich der Wirtschaft: der Westen liegt vorn bei der Exportorientierung, dem Hauptsitz großer Firmen, Produktivität und der Kaufkraft, dem Immobilieneigentum und Erbschaftssteueraufkommen. Dass der Osten bei der durchschnittlichen Größe der landwirtschaftlichen Betriebe vorne liegt, macht dies nicht wett.

Den Westen nicht zur Norm machen

Der Autor warnt davor, den Westen überall zur Norm zu machen. Dieser Ansatz begreift den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten.
Während bei Vermögen und Einkommen ein Aufschließen des Ostens wünschenswert wäre, ist es bei Mieten, Schulqualität nicht. Auch die Frauenerwerbsquote, Kita-Abdeckung sollte nicht auf Westniveau sinken. Zurecht verweist er auf Unterschiede im Westen: Wir erwarten von Bayern oder dem Saarland ja auch keine Angleichung an den Rest der Republik.

Der Osten wurde zur Anpassungsgesellschaft, ohne die Blaupause West je zu erreichen

Die Dynamiken von Aufholen, Nachahmen und Angleichen flachen nach 35 Jahren merklich ab merklich ab. Wir sind in die Posttransformationsphase übergegangen, die uns klarer als bisher vor Augen führt: Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter anverwandeln, zu stark wirken die Prägungen der DDR, die Weichenstellungen der Wiedervereinigung und die Lasten der Transformationsjahre.
Im Osten bleiben eigene Strukturen eigene Strukturen erhalten, eigene Mentalitäten, eigene politische Bewusstseinsformen; einige formten sich im Einigungsgeschehen auch neu.

Deutschland ist ungleich vereint – und wird das auch bleiben

Dramatische Eliteschwäche: Der Anteil der Ostdeutschen in Spitzenjobs in Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz und Meiden ist sehr niedrig. Westdeutschland ist recht mittelschichtig, Ostdeutschland hingegen eine einfache Arbeitnehmergesellschaft
Demographisch: Während die Zahl der Menschen in Westdeutschland wächst, schrumpfte die Zahl im Osten (ohne Berlin) von 15 Millionen 1990 auf 12.6 Millionen – weniger als in Bayern. »Schrumpfgesellschaften nehmen oft traditionsbewahrende und defensive Haltungen ein.«
Ostbewusstsein: Lange galt die ostdeutsche Identität als Problemfall, vertreten im Trümmerfeld der Linken. Heute werden Unterschiede herausgearbeitet, auch die Nachwendegeneration sehen Ostdeutsche Unterschiede, die durch Westdeutsche kaum noch wahrgenommen werden.

Gravierende Unterschiede der politischen Kultur

Ostdeutschland bleibt als sozialer und kultureller Erfahrungsraum durch reale Unterschiede, aber auch durch Familiennarrative und mediale Diskurse präsent. Dieser kommt als Opfererzählung, Osttrotz oder Oststolz daherkommen. Dazu passen die aktuellen Bemühungen, das Merkmal »ostdeutsch« in die Register der Identitätspolitik einzutragen und daraus die Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung abzuleiten.
Unterschiede sieht der Autor auch in der politischen Kultur, die er auf die kürzere Demokratiegeschichte aber auch das Zurückdrängen basisdemokratischer Experimente in der Wendezeit.

Neuer Kipppunkt Landtagswahlen?    

Die drei bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland könnte ein neuer Kipppunkt sein. Die AfD versucht sich das ostdeutsche Gefühl zu instrumentalisieren. Das Bündnis Sahra Wagenknecht setzt sich sogar für eine spezielle Förderung von Ostdeutschen ein. FDP, Grünen und SPD drohen Verluste, sodass Regierungsbildungen schwierig werden könnten. Die Parteistrukturen in Ost und West könnten sich noch weiter verschieben.

Ost und West mehr als zwei Himmelsrichtungen

Die deutsche Einheit sieht der Autor nicht in Gefahr „Ostdeutschland ist kein Katalonien 2.0. Aber Ost und West sind in Deutschland mehr als zwei Himmelsrichtungen – und werden das auf absehbare Zeit auch bleiben.

Dienstag, 18. Juni 2024

Halbgare Aktentaschen-Witze auf TikTok reichen der Jugend nicht

Sascha Lobo kommentiert im SPIEGEL das AfD-Ergebnis bei der Europawahl und warnt, dass halbgare Witze auf TikTok nicht ausreichen.

Junge Menschen werden nicht wahrgenommen

Der Autor vertritt die „unpopuläre Meinung“, dass er erstaunt ist, dass nur 17 Prozent der jungen Menschen AfD gewählt haben. Er sieht seit Jahren eine Verbreitung von rechten Stimmungen, wie etwa Antifeminismus, sozialdarwinistische Libertäre und natürlich auch offener Rassismus, siehe Sylt. Er hält die Entscheidung der Jugend für katastrophal falsch und menschenfeindlich – ihre Wut und die anderen Empfindungen aber sind gut nachvollziehbar. Sie werden strukturell diskriminiert, ihre Prioritäten nicht gesehen, und sie werden selten ernst genommen.

Verbot von TIkTok keine Lösung

Kurz nach der Wahl forderten manche ein Verbot von TikTok, da dort häufig populistische Themen verbreitet werden. Er bezeichnet diese Forderung als „folgerichtig“, weil man die Schuld auf das böse TikTok aus China schieben kann. Das Wahlergebnis ist ein Symptom, ein Teil der Jugendlichen wählen aus Rache, Trotz, Zynismus gegen das ganze System.

Gründe für die Wut

Gründe für diese Wut gibt es genug:

Mieten

Durch die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus und fragwürdige Baupolitik sind die Mieten explodiert. Zu hohe Mieten und zu knapper Wohnraum münden oft in der Aussichtslosigkeit, in eine Stadt zu ziehen und eigene Wohnung zu stehen. Die Wohnfrage gehört zu den größten Zumutungen von Politik und Gesellschaft gegenüber der Jugend. In Verbindung mit Flüchtlingen eignet sich das Thema auch ideal für Populismus.

Pandemie

In der Pandemie wurde wenig auf die Jugend Rücksicht genommen. Während Abgeordnete für Maskendeals nicht bestraft werden und sogar das Geld behalten durften, wurden Jugendliche bei Fehlverhalten während des Lockdowns im Park gejagt. Auch wenn viele Maßnahmen nachvollziehbar sind, war es falsch, die Jugend (und auch die Eltern) mit den extremen Belastungen komplett allein zu lassen – auch das hat eine Abkehr vieler junger Menschen bewirkt.

Digitalisierung

Der seit Jahrzehnten beschämende Zustand der deutschen digitalen Infrastruktur hat unmittelbare Auswirklungen auf die Zukunftschancen junger Menschen: von der Bildung über die Justiz und das Gesundheitssystem bis zur Verwaltung die Dysfunktionalität uralter Strukturen und absurder Überbürokratie spürbar wird.

Sparwut

Die Schuldenbremse und die damit verbundene Sparwut gehört für den Autor zu „den giftigsten politischen Sondermüll-Hinterlassenschaften der Merkel-Jahre.“ Sie verhindert die notwendigen Investitionen in Bildung, Verwaltung und Infrastruktur. Für viele ist ein ausgeglichener Haushalt wichtiger als ein funktionierendes Land.

Integration und Migration

Junge Menschen erleben im Alltag vermutlich häufiger als durchschnittliche Erwachsene, dass ein Teil der Integration spürbar gescheitert ist und noch weiter scheitert. Niemand fordert Konsequenzen „außer der AfD, die mit rassistischem, menschenfeindlichem Remigrationsmüll um die Ecke kommt.“ Diese Debatte muss man führen: „Wenn zu viele Linke und Demokrat:innen die Integrationsproblematik ignorieren, wird das Thema viel zu oft rassistisch von rechts diskutiert, was die entsprechenden Kräfte stärkt.

Zukunftsunsicherheit

Angesichts des Zustands der Welt ist die Verunsicherung, die Zukunftsangst und das Gegenwartshadern der Jugend leicht nachvollziehbar sein. Für junge Menschen war es schon immer eine Herausforderung, ihren Platz in der Welt zu finden. Mit Inflation, Klimakatastrophe, Inflation und Entwicklungen wie künstlicher Intelligenz trifft es diese Generation aber besonders hat.

Nicht in die Wut- und Hassspirale geraten

Lobos letztem Abschnitt ist fast nichts hinzuzufügen: „Das Angebot, das Olaf Scholz der Jugend gegen die bohrende Zukunftsunsicherheit macht, sind zwei halbgare Aktentaschengags auf TikTok. Es ist nie, nie, nie richtig, eine rechtsextreme Nazi-Partei zu wählen. Aber wir als Zivilgesellschaft, als liberale Demokratie müssen der Jugend Gründe geben, gar nicht erst in die Wut- und Hassspirale zu geraten, die bei vielen die Wahlentscheidung für Rechts begünstigt.“

Freitag, 3. Mai 2024

Schützt die Jugend vor der CSU

In einem Kommentar im SPIEGEL kritisiert Anna Clauß das Cannabis-Verbot im Biergarten.

Verbot von Drogen im Biergarten

Unterstützt von der bayerischen Regierung verbot der Augustiner- -Keller zunächst jede Form von Drogen. Nachdem ihnen klar wurde, dass damit auch Bier zählen konnte, präzisiert der Biergarten das Verbot auf Marihuana und Cannabis“. De Staatsregierung zog nach und verbot Cannabis in öffentlichen Park und Volksfesten.

Komasaufen erlaubt, ein Joint kostet 1000 Euro

Die Staatsregierung begründet dies mit Gesundheitsschutz und möchte kein Kiffer-Paradies. Zieht ein 18-Jähriger künftig vor einem 17-Jährigen an einem Cannabis-Vaporisator, muss der Volljährige 1000 Euro blechen. Ins Koma saufen dürften sich beide kostenlos. Konsequenterweise müssten die Staatsregierung Minderjährigen das Betreten von Biergärten und Bierzelten verbieten. Aber huch, dann wäre die CSU ja genau die Verbotspartei, als die sie die Grünen so gern diffamiert.

Recht auf Rausch

Die Autorin betont die Gefährdung durch Cannabis, kritisiert aber die Gleichsetzung mit harten Drogen. Beim Alkohol gewährt der Freistaat das Recht auf Rausch. Otto Wiesheu verursachte betrunken einen Unfall mit Todesfall - er wurde anschließend Verkehrsminister.

Cannabiskonsumenten werden nicht zu aggressiven Schlägern

Cannabis ist eine Droge, der eine entspannende Wirkung zugeschrieben wird, weswegen sie medizinisch unter anderem in der Schmerztherapie eingesetzt wird- Wenn jemand das Rauchen stärkt- egal ob Zigaretten oder einen Joint – kann man sich halt wegsetzen.

Schützt bayerische Kinder – vor einer Instrumentalisierung durch die CSU

Die Autorin bezeichnet den CSU-Kreuzzug als unerhört: Wer die Gesundheit von Minderjährigen als vorgeschobenes Argument benutzt, um medienwirksam Anti-Ampel-Politik zu machen, verhält sich so schäbig wie ein Brownie-Bäcker, der heimlich Cannabis in den Teig bröselt. Ihre Forderung „Schützt bayerische Kinder – vor einer Instrumentalisierung durch die CSU!“

Mittwoch, 24. April 2024

Stimmungstief und Rechtsruck bei junger Generation

Die Süddeutsche Zeitung berichtet über die Jugendstudie 2024. Junge Menschen sind demnach so pessimistisch wie nie zuvor

Bröckelnder Zukunftsoptimismus

Die Ergebnisse der der Studie "Jugend in Deutschland 2024" sieht bei der jungen Generation einen "bröckelnden Zukunftsoptimismus" Grund dafür sei die Sorge um die Sicherung des Wohlstands und die damit verbundene hohe politische Unzufriedenheit. Die größten Sorgen sind demnach die Inflation, der Krieg, der Sorge um den Wohnraum, die Spaltung der Gesellschaft, Altersarmut und Zuwanderung. Nachgelassen hat die Sorge um den Klimawandel.

AfD bei jungen Menschen stärkste Partei

Die Sorgen um die Migration zeigt sich auch in den Wahlabsichten. 22 % plädieren für die AfD, gefolgt von der CDU. Grüne und FDP, die bisher bei den Jungen besonders gut ankamen, landen nur noch bei 18 bzw. 8 %. Auch die SPD verliert und landet bei 12 %-

Psychische Belastung trotz Abflauen von Corona sogar noch gestiegen

Anders als erwartet steigt die psychische Belastung bei Jugendlichen trotz Abflauen von Corona sogar noch. Die Verfasser sind besorgt: "Unsere Studie dokumentiert eine tief sitzende mentale Verunsicherung mit Verlust des Vertrauens in die Beeinflussbarkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die Aussicht auf ein gutes Leben schwindet."

Samstag, 30. März 2024

Deutschland braucht eine saubere Aufarbeitung der Corona-Zeit

Angelika Slavik fordert in der Süddeutschen Zeitung eine Aufarbeitung der Corona-Zeit, egal wie schmerzhaft das ist.

Schmerzhafte Aufarbeitung notwendig

Das Coronavirus hatte eine Vielfalt an Erscheinungsformen mit unterschiedlichen Verläufen, nach Alpha, Delta und Omikron heißt die Corona-Herausforderung diesmal: Aufarbeitung. So sollte nun klar werden, wer was wann und warum entschieden hat. „Fehler, die passiert sind, muss man dabei klar benennen. Es darf keine Schönfärberei und kein Vertuschen geben.

Nicht alles, was rückblickend nicht gut aussieht, ist ein Skandal.

Der Autor betont aber auch, dass die Pandemie eine Ausnahmesituation war und Entscheidungen unter Druck schnell getroffen werden mussten. Die Bilder aus Bergamo verdeutlichten die Dramatik: Nicht alles zu versuchen, um Leben zu retten, wäre unverantwortlich gewesen.

Gefahr der Instrumentalisierung

Die Debattenkultur ist in einem schlimmen Zustand, die komplexe Aufarbeitung wird deshalb fast zwangsläufig von vielen Seiten instrumentalisiert werden. Dennoch ist die Debatte notwendig: Je transparenter und nachvollziehbarer die Corona-Zeit nun aufgearbeitet wird, desto höher sind die Chancen, zumindest einen Teil der Menschen zurück in den gesellschaftlichen Diskurs zu holen

Unterschiedliche Sichtweisen aushalten

Im besten Fall lernt das Land, unterschiedliche Sichtweisen auszuhalten. Es wird klar, dass komplexe Probleme nicht mit banalen Antworten zu lösen sind. „Und vielleicht ist sogar Raum für den Gedanken, dass es ganz in Ordnung ist, sich gegenseitig auch einfach mal die besten Absichten zuzutrauen - und nicht immer nur das Allerschlimmste zu vermuten. Das Motto muss jetzt sein: Augen auf und durch. Wer Alpha, Delta und Omikron überstanden hat, darf an dieser großen letzten Herausforderung nicht scheitern.“

Montag, 26. Februar 2024

Das Ende von sozialen Medien?

Lars Weisbrod sieht in der ZEIT das Ende der sozialen Medien.

Die Party ist schon längst zu Ende

Anhand von drei Meldungen zeigt der Autor, dass wie bei einer zu Ende gehenden Party noch viele da sind, die Stimmung aber nicht mehr da ist.
Viele seriöse und zahlungskräftige Anzeigenkunden meiden inzwischen den Kurnachrichtendienst X.
Der Algorithmus von Meta schlägt den Nutzern in Zukunft keine "politischen Inhalte" mehr vor, sofern die Nutzer nicht ausdrücklich zugestimmt haben.
Das US-amerikanische Marktforschungsinstitut Gartner schätzt, dass bis zum Jahr 2025 die Hälfte der Verbraucher ihren Social-Media-Konsum erheblich einschränken oder ganz aufgeben wird.

Der Reiz ist vorbei

Für viele jungen Menschen ist Facebook uninteressant geworden. Noch fehlen die Belege, aber viele haben das Bauchgefühl, dass der Reiz vorbei ist. Die Autoren zitieren einen Bericht im Economist, der argumentiert, dass die ganze Magie entstand, weil man persönliche Interaktionen kurzgeschlossen hatte mit massenmedialer Kommunikation. Dies zerfällt nun (wieder) – in seinen sozialen und seinen medialen Teil.

Veränderungen im Nutzerverhalten

Jüngere nutzen mittlerweile BeReal und kommunizieren mit ihren Freunden statt mit allen anderen Internetnutzern. Auch andere Nutzer ziehen sich in geschlossene WhatsApp-Gruppen zurück und zeigen ihre Status-Updates lieber im engen Kollegenkreis aus und nicht mehr mit der ganzen Welt.
Dies zeigt sich auch sprachlich. Facebook machte aus Freunden Follower, bei Apps wie BeReal trifft die Bezeichnung wieder zu.

Nicht mehr mit der ganzen Welt kommunizieren

Lange Zeit gab es den Traum mit der ganzen Welt zu kommunizieren. Twitter und Instagram wurden zu den Leitmedien der Zehnerjahre aufstiegen, zu den Prototypen dessen, was wir unter Social Media verstehen. Plötzlich hielten sich mehrere Milliarden Menschen für Prominente, für Experten, für Trendsetter." Dieser Trend ist nicht verschwunden: auch heute noch hört man von neuen TikTok-Stars, die aus ihren Kinderzimmern heraus ein Millionenpublikum erreichen. Die Rollen sind aber mittlerweile klar getrennt. Man nutzt die App entweder als Sender oder Empfänger; nur selten ist man beides zugleich.

Postsoziale Medien

Jeder bekommt weiterhin, was er vorher angeschaut haben. Das Teilen spielt aber keine große Rolle mehr. Soziale Medien waren einst darauf angewiesen, dass ich interagiere; nur dann konnten die Algorithmen wissen, was mir gefällt. Postsoziale Medien wissen, was mir gefällt, selbst wenn ich passiv bleibe. Es dreht sich mittlerweile nicht mehr um Freunde oder Follower, sondern um Mini-Videos, "mit denen Nutzer ihre überhitzten, verwirrten Gehirne ruhigstellen". Und wer das nicht will und echten Austausch bevorzugt, der zieht sich zurück in kleine, geschlossene Räume.

Kommt die nächste Wende?

Postsoziale Medien werden auf Dauer nicht die gleiche Kraft entfalten wie soziale Medien. Der Autor verweist auf eine weitere Entwicklung: Bibliotheken sind wieder belegt, ironischerweise auch durch das Stichwort BookTOk auf Tiktok
So finden die Jüngeren ihren Weg zurück in die Gutenberg-Galaxis. Als hätten die TikTok-Nutzer beschlossen: Wenn wir uns sowieso wieder in Sender und Empfänger spalten, oder, anders formuliert, in Autor und Leser, dann können wir gleich zurückkehren zum gedruckten Buch, das diese Unterscheidung einst begründete.

Donnerstag, 15. Februar 2024

Demonstrationen gegen rechts: Bloß keine linke Türsteherei

Robert Pausch lobt in der ZEIT die Demonstrationen gegen die AfD, warnt aber vor linker Türsteherei.

Aufschwung der AfD gestoppt?

Die Berichte über das Treffen in Potsdam zur „Remigration“ hat auch innerhalb der der AfD für Unruhe gesorgt. Während Alice Weidel ihren Referenten feuerte, kritisierten andere das Vorgehen als „Altparteienverhalten“. In den Reihen der AfD und ihrer Stichwortgeber herrscht Unruhe, fast Panik. Diese Panik zeigte sich auch bei der Beurteilung der Demonstrationen. Mal waren die Demonstrationen regierungsgelenkt, dann wurden die Zweifel an Teilnehmerzahlen geschürt.

Die Zivilgesellschaft lebt, der Druck auf die AfD wirkt

Die Demonstrationen sind für Pausch eine eindrucksvolle und wirksame demokratische Selbstermächtigung. Er warnt davor, auf den Demo-Bühnen eine Debatte über Flüchtlinge zu führen – den Protesten sollen nicht durch linke Türsteherei den Schwung zu nehmen. Auch wenn linke Gruppen all die Jahren den Widerstand aufrecht erhalten haben, sollten sie die Mitte miteinbeziehen. Diese sind eine Machtdemonstration der politischen und kulturellen Mitte. Ausdrücklich sollte auch die CDU miteinbezogen werden.

Es geht um Mehrheiten

Der Autor schlägt ein Rahmenprogramm vor, um zu zeigen, dass auch viele Künstler hinter dem Anliegen stehen, wie z.B. Roland Kaiser oder Helene Fischer oder Mallorca-Musiker DJ Robin, der zwar politisch inkorrekte Lieder singt, aber deutlich gegen die AfD positioniert. Es geht bei diesem Protest nicht um Wahrheiten, es geht um Mehrheiten. Es geht um ein Bündnis vom Ballermann bis zur Basisgruppe. Denn das ist es, was die AfD am meisten fürchtet.

Mittwoch, 10. Januar 2024

Jugendkriminalität: Die Mär von der kriminellen Jugend

Philipp Kollenbroich beschäftigt sich im SPIEGEL mit der Jugendkriminalität und kritisiert „die Mär von der kriminellen Jugend“.

Kriminalität bei Jugendlichen ist gestiegen

Die Zahlen von Straftaten, die durch Jugendliche begangen werden, sind gestiegen: Ladendiebstahl auf über 46.000 von 27.000 im Jahr 2021. Hierzu kamen Einzelfälle, die viel Aufmerksamkeit erregten: Silvester in Berlin-Neukölln und die strafunmündigen Mädchen, die eine zwölfjährige erstochen haben. Zwar hatten Experten nach Corona nach einem Anstieg gerechnet, die Zahlen gingen aber deutlich über das Vor-Corona-Niveau hinaus.

Das Zahlenwerk hat Tücken

Ein Teil der Zunahmen geht schlicht auf Gesetzesverschärfungen zurück. So fallen etwa Jugendliche, die ein Nacktfoto von sich selbst verschicken, bereits unter den geänderten Kinderpornografie-Paragrafen. Auch der Straftatbestand der Bedrohung wurde erweitert. Deshalb messen Kriminologen aus Hannover anders: Sie befragen Schüler nach ihren Erfahrungen als Täter oder Opfer. Bei der Polizeistatistik können Veränderungen durch verändertes Anzeigeverhalten oder stärkeren Kontrollen Veränderungen hervorbringen.

Jugend sind weniger gewalttägig

Nimmt man die Zahl der Forscher ist die Jugend in Deutschland danach über die vergangenen 15 Jahre signifikant weniger gewalttätig geworden. Der Gesamtindex Gewalt fiel von 7,5 auf 6,4 Prozent. Lediglich der Ladendiebstahl ist angestiegen, bei anderen Delikten ist die Zahl konstant oder rückläufig.

Was die Polizei sieht

Der Artikel berichtet über die Polizeiarbeit in manchen Stadteilen. Beamte werden beleidigt, die Menschen solidarisieren sich gegen die Polizei. Die Straftaten gingen oft wie Wellen durchs Viertel, vom selben Delikt viele zugleich. Insgesamt sehen die befragten Beamten keinen Unterschied zur Vor-Corona-Zeit.

Gründe für die Differenzen zur Kriminalitätsstatistik

Die Forscher nennen zwei Gründe für die Unterschiede zwischen den Statistiken: Durch die Zuwanderung leben deutlich mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland. Auch wenn sie kriminell wären wie der Durchschnitt, steigt die absolute Zahl der Straftaten. Der andere Faktor sind Nachholeffekte nach Corona. „Das Austesten von Grenzen wird nachgeholt“. Dieser Faktor könnte in den Folgejahren wieder geringer werden.

Was Sozialarbeiter erleben

Der Artikel beschreibt einen Jugendarbeiter, der Polizisten zu einem Gespräch in ein Jugendzentrum eingeladen hat. Eigentlich war ein Gespräch über Messer geplant, aber es ging weniger darum, worüber gesprochen wird – sondern dass überhaupt gesprochen wird. Da die Beamten in Zivil auftraten konnten die Kinder ihr negatives Bild hinterfragen. Der Sozialarbeiter betont, dass es wenig Gewalt, aber sehr wohl Probleme gibt: Das Schulsystem passe für viele Jugendliche hier nicht, die Klassen seien zu groß, es fehle an Unterstützung. In der Jugendarbeit entstand deshalb eine Idee, negative Gefühle auszuleben: Boxhandschuhe und ein Boxsack: Die Aggression, so die Idee, ist weiterhin da, aber sie landet im Boxsack. Und nicht in der Polizeilichen Kriminalstatistik.